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Nicht springen! Appetizer-Ausgabe

Der neue Roman von Jens Lossau

von Jens Lossau (Autor:in)
©2016 0 Seiten

Zusammenfassung

Der All-Age Roman „Nicht springen!“ erzählt die Geschichte des 14jährigen Janniks der nach dem Tod seines Vaters mit sich selbst und den neuen Gegebenheiten in seinem Leben kämpft. Eine wunderschöne Geschichte die mit Herz, Spannung und Humor das zusammenrücken einer Patchworkfamilie schildert.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Eines ist klar: Nämlich wie diese Geschichte ausgehen wird.

Es gibt verschiedene Arten, sich das Leben zu nehmen. Manche schießen sich eine Kugel durch den Kopf, aber das ist pervers – seine Gedanken durch die Gegend zu spritzen, meine ich. Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass so etwas leicht schief geht, und dann ist man ein Krüppel, der Nahrung durch einen Strohhalm schnorchelt. Abgesehen davon: Woher soll ich bitteschön eine Knarre nehmen?

Auch Erhängen ist keine Lösung, das misslingt noch häufiger. Mich vor einen Zug zu werfen, fällt völlig flach. Gift! Gift wäre eine Lösung. Oder Schlaftabletten. Aber auch hier besteht das Problem woher nehmen? Ich kann ja nicht einfach eine Flasche Reinigungsmittel trinken oder mich in Salzsäure auflösen. Ich habe keine Lust, den letzten Moment meines Lebens in unerträglichen Schmerzen zuzubringen. Auch das Zerfetzen der Pulsadern ist undenkbar. Ich kann kein Blut sehen. Von Selbstverbrennung oder Ertränken will ich gar nicht erst anfangen.

Springen ist die einzige Alternative.

Als ich noch klein war, träumte ich oft vom Fliegen. Das waren die besten Träume überhaupt. Ansonsten träumte ich nur Dreck. Von riesigen, kackenden Hühnern oder bunten Dinosauriern und so. Wenn ich aus meinen Flugträumen erwachte, geschah das immer mit Bedauern, vielleicht weil ich wusste, dass ich in Wirklichkeit nicht fliegen konnte.

Wenn man in einen Abgrund springt, muss man sich keine Gedanken um den Sturz machen. Das Fallen ist nicht das Problem, höchstens der Moment des Aufschlags, aber der ist wahrscheinlich zu kurz, als dass man ihn mitbekäme.

Näher kommt man an das Gefühl des Fliegens nicht ran.

Das hier ist mein Abschiedsbrief. Ich befinde mich in etwa dreißig Metern Höhe auf dem Dach eines Hochhauses. Ich heiße Jannik Regener und bin zum Zeitpunkt meines selbst gewählten Todes vierzehn Jahre alt. Kein Aas kann meinen Namen korrekt schreiben, nicht einmal meine Mutter. Janik. Jannick. Yannick. Die Variante ›Ianig‹ geht gar nicht, ist aber auch schon vorgekommen.

Ich habe eine kleine Schwester, Philomena. Nur uralte Geschöpfe heißen so. Meine Schwester ist neun. Jeder nennt sie Philly, das spart Zeit.

Mutti ist von Beruf Autorin. Drehbücher fürs Fernsehen, kitschiger Liebesschwulst. Seitdem Papa tot ist, schreibt sie nicht mehr. Als wären die Geschichten in ihr versiegt. Bis vor kurzem besuchte sie eine Selbsthilfegruppe für zerbrochene Leute, die ihren Ehepartner verloren haben.

Diese verdammte Selbsthilfegruppe.

Dort hat sie Samuel kennen gelernt.

Das Hochhaus, auf dessen Dach ich sitze, hat ungefähr zwanzig Stockwerke, vielleicht ein paar mehr oder weniger, ich habe sie nicht gezählt. Wie ein Fremdkörper steht es mitten in der Kleinstadt, in die es mich und die Trümmer meiner Familie verschlagen hat.

Von meinem Aussichtspunkt aus wirkt die Welt wahnsinnig trostlos. Das Kaff liegt in einer Talsenke, von zwei Autobahnbrücken eingerahmt, umgeben von Weinberghügeln, auf denen Dutzende Windräder stehen, eingehüllt vom Novembernebel. Es gibt keine Stadtviertel – das wäre die falsche Bezeichnung, weil der Ort für Bezirke viel zu klein ist. In der Ferne erkennt man den rot leuchtenden Schriftzug eines MediaMarkts und den Betonklotz, in dem die Schule untergebracht ist, die ich ab nächster Woche besuchen soll.

Ich hatte gar nicht vor, auf das Dach zu steigen. Eigentlich wollte ich mit meinem Schrottrad nur ein bisschen in der Gegend herumfahren, weil ich es in unserem neuen Heim nicht aushielt. Weil es nicht unser Haus ist. Weil es diesem unsäglichen Samuel gehört.

Samuel will nur Sam genannt werden. Er lächelt immer. Er hat zwei Kinder, die jetzt meine Geschwister sind, Emily, so alt wie ich, und Aaron, der ist schon siebzehn.

Ich weiß nicht viel über meine neue Familie, aber ich weiß, dass ich das Leben hier keinen Tag länger ertragen kann.

Es war kein Problem, in das Hochhaus hineinzukommen, die Eingangstür stand offen. Mit dem Lift fuhr ich ins oberste Stockwerk. Ich schaffte es, meine Klaustrophobie zu unterdrücken. Ich mag keine Fahrstühle. Zu eng. Oben führte eine Wendeltreppe aus Metall aufs Dach.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich bin kein heulendes Elend und kein Weichei, das sich umbringt, weil sein Vater gestorben ist. Nicht jeder, der den Tod eines Angehörigen verkraften muss, begeht gleich Selbstmord, das wäre ja ein schönes Chaos. Die Mutter meiner neuen Geschwister ist vor einem Jahr gestorben, von denen will sich auch keiner umbringen. Ihre Mutter hatte Krebs, am Ende war es eine Erlösung. Jedenfalls hat Sam das behauptet, als er bei uns zu Besuch war, zwei Monate, bevor sich alles zugespitzt hat und Mutti die Wahnidee hatte, mit der Bagage zusammenzuziehen.

Ich muss mich umbringen, ich habe keine andere Wahl. Zum einen bin ich ein Soziopath. Ich habe keine Gefühle. Ich meine, keine richtigen. Alles ist verdreht. Okay, mir tut der Daumen weh, wenn man mit einem Vorschlaghammer drauf haut, und beim Blutabnehmen, neige ich dazu, das Bewusstsein zu verlieren. Aber ansonsten ist da wenig. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal geweint oder gelacht habe. Es gibt Fotos von mir, mit Papa und Philly, auf denen wir alle lachen. Keine Ahnung, wo diese Bilder herkommen, ich kann mich nicht an die Szenen erinnern. Wahrscheinlich sind sie manipuliert.

Das wirkliche Problem, weswegen ich abtreten muss, ist Folgendes: Ich bin verflucht. Unentwegt passieren in meinem Umfeld Katastrophen.

Damit man auch das nicht falsch versteht: Ich löse diese Katastrophen nicht bewusst aus.

Wenn ich zurückdenke, geschah es zum ersten Mal, als ich etwa fünf war.

Ich hasste den Kindergarten. Philly war gerade geboren, und ich kam mir abgeschoben vor. Ein neues Kind war da, hurra, aber verdammt, was machen wir mit dem alten? Am besten, wir geben es ab, an irgendwelche Leute, die Fingerfarben und Kartoffeldruck für den letzten Schrei halten.

Meistens saß ich an einem Fenster des Kindergartens und starrte nach draußen auf die Straße, um die vorbeifahrenden Autos zu zählen und mir Notizen zu machen (ich konnte schon lesen und schreiben, bevor ich in den Neunten Kreis der Hölle einging, besser bekannt als ›Schule‹). Ich notierte die Autos nach Farben. Das Ergebnis war erstaunlich: Es gab fast nur silberfarbene Karren, die am Kindergarten vorbeiknatterten. Keine Ahnung, was mir dieses Ergebnis sagen sollte, aber ich fand es bemerkenswert.

Letztendlich ging es nicht um irgendein Ergebnis. Es ging um die Erhebung an sich. Aus mir wäre bestimmt mal ein guter Beamter geworden, der sich mit drögen Statistiken durch die sagenhafte Nutzlosigkeit seiner Existenz hangelte.

Irgendwie überlebte ich auf diese Weise den Horror des von Idioten vollgestopften Abschiebekindergartens – jedenfalls bis zu dem Tag, an dem ich Annika die Pulsadern aufschnitt.

Annika war eine riesige, uralte Kindergärtnerin. Sie hatte graue Haare und Falten und Warzen im Gesicht, wie eine Hexe. Ich glaubte, dass sich Annika, bevor sie ihren Dienst im Kindergarten antrat (wenn sie nicht sogar in einem Keller darunter wohnte), ihr Gesicht mit Mehl einstäubte, so weiß war es, und das war rätselhaft. Sie hatte eine laute Stimme und ein noch lauteres Lachen, das an einen verstopften Abfluss erinnerte. Heute glaube ich, dass sie Kettenraucherin war. Man kennt das Lachen von Rauchern, die sich jeden Tag zwei Päckchen reinpfeifen. So ein Lachen kommt tief aus der Kehle, in Schleim gepackt.

Von Anfang an hatte ich eine Heidenangst vor ihr, und im Gegensatz zu den anderen Idioten erkannte ich, dass sie kein Mensch war, sondern ein Wesen, das sich nur als Mensch verkleidet hatte und sich in der Nähe von Kleinkindern aufhielt, um diese eines Tages zu fressen.

Manchmal, wenn ich keine Lust mehr hatte, die Autos vor dem Fenster des Kindergartens zu zählen, malte ich vor mich hin. Ich hasste den viel gepriesenen Kartoffeldruck. Ich kleckerte dabei immer, und das versaute mir das ganze Bild. Außerdem war ich, zumindest was die Technik des Kartoffeldrucks anging, künstlerisch stark eingeschränkt. Überhaupt mag ich Kartoffeln nicht. Ein unsympathisches, hinterhältiges Gemüse. Diese mehlige Feuchte im Innern. Wenn ich versuchte, eine Form auszuschneiden, gab es immer nur Klumpatsch, weil ich motorisch nicht ganz auf der Höhe war.

Ich hasste also Kartoffeldruck, aber ich malte gerne mit Wachsmalstiften. Keines meiner Kunstwerke ist der Nachwelt erhalten geblieben. Irgendwie schade. Ich glaube zwar nicht, dass ich Gemälde schuf, die von einem unerschütterlichen Genie zeugten– aber schade finde ich es trotzdem. Ich benutzte immer nur zwei Farben, Schwarz und Rot. Ich finde diese Kombination noch heute ansprechend. Mein fünfjähriges Ich verzog sich an einen Tisch, bewaffnet mit Wachsmalstiften, und kritzelte fröhlich vor sich hin. Wahrscheinlich malte ich Menschen und Häuser und silberfarbene Autos (was sich unter Verwendung meiner Farben als recht schwierig gestaltet haben dürfte). Aus heutiger Sicht hätte das bestimmt alles sein können – Tumore, Amöben, Pimmel, Kothaufen.

Annika kam an meinen Tisch und simulierte Begeisterung, als sie mein Werk betrachtete.

»Das ist aber hübsch, was du da malst, Jannik. Ist das ein Schwein?«

Wie gesagt, ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich da hinschmierte, aber ein Schwein war es mit Sicherheit nicht. Ich erinnere mich daran, dass Annika komisch roch. Heute bin ich mir unschlüssig, ob sie ein gewagtes Parfüm auflegte, wild und frech, oder ob sie einfach nach Kindergärtnerinnenschweiß stank. Auf alle Fälle waren ihre Ausdünstungen einprägsam.

Ich konnte damals noch nicht richtig sprechen. Das heißt, klar, ich konnte sprechen, ich war nicht so ein scheiß Brabbelbaby, ich konnte ja sogar schon lesen und schreiben. Allerdings war ich nicht in der Lage, die Gedanken, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen, in verständliche Laute zu fassen. Ich dachte: Okay, du blöde, hässliche Kuh, ich habe Angst vor dir, weil du laut bist und ein verschleimtes Lachen ausstößt, von dem man nicht weiß, ob es sich um Hysterie oder einen Erstickungsanfall handelt. Ich habe Angst vor dir, weil du die ganze Zeit Sachen befiehlst, die die anderen Deppen ausführen, weil sie so beschränkt sind. Du bist doch hier nur angestellt, um mich zu kontrollieren und aufzupassen, weil mir daheim ein schreiendes, fressendes, kackendes Baby, meine Position streitig gemacht hat. Ich versuche, mich zu verstecken, indem ich die Autos vor der Scheibe zähle. Mag sein, dass ich wahnsinnig bin, ein kleiner Soziopath, der Probleme mit anderen hat, aber ich weiß, du interessierst dich in Wirklichkeit nicht für meine Gemälde. Unabhängig davon will ich auch gar nicht, dass du sie dir ansiehst, was juckt mich deine Meinung? Ich male nur, weil es mich beruhigt, weil die Farbkombination aus Rot und Schwarz was Tröstendes hat, aber das wirst du nie kapieren. Ich habe erkannt, dass du eine Kinder fressende Hexe bist, die auf ihre Chance lauert, laber mich also nicht blöd von der Seite an.

Das alles ging mir – naja, vielleicht nicht ganz so komplex – durch den Kopf. Ich öffnete also den Mund und sagte: »Ah.«

Noch heute gibt es Situationen, die mich wieder in einen Fünfjährigen verwandeln. Manchmal stecken einfach zu viele Worte zwischen meinen Lippen, sie verheddern sich ineinander. Das äußerte sich in einer großen, schrecklichen Gefühlsaufwallung, die mich lähmte.

Annika grabschte sich meine Zeichnung, so dass mein roter Wachsmalstift, den ich gerade ansetzte, verrutschte und einen hässlichen Strich quer über das Kunstwerk zog.

»Was ist das, Jannik? Ein Schwein und ein Haus? Und Wolken? Das ist wirklich sehr schön, aber schau mal, es gibt doch noch andere Wachsstifte. Zum Beispiel braune. Oder rosafarbene.«

Braun und Rosa? Also bitte! Das sind doch keine Farben.

Es passte mir nicht, dass sie mich in meiner kreativen Schaffensperiode unterbrochen hatte. Auch so eine Sache: Ich glaube an Feng-Shui. Also, dass man eine Wohnung so einrichten sollte, dass man sich darin mit seinem Geist im Einklang befindet. Man muss nur alles entsprechend arrangieren. Vor ein paar Jahren hab ich ein Buch darüber gelesen, das war komplett überzeugend. Ich bin jetzt nicht so ein Esofreak, der an Wunderheilmittel und Wünsche an das Universum und so einen Scheißdreck glaubt. Aber Feng-Shui macht Sinn. Logisch, dass es nicht von Vorteil ist, wenn man spitze Gegenstände in seiner Bude aufstellt, an denen man sich aufspießen kann, wenn man nachts zum Pinkeln raus muss.

Ich glaube, jeder Mensch besitzt eigenes Feng-Shui. So eine Art Aura. Deswegen fühlte ich mich bei uns daheim sicher und im Kindergarten nicht, weil meine Aura permanent unterbrochen und verseucht wurde.

Zurück zu Annika. Sie mit meinem Gemälde in der Pranke, eine Augenbraue skeptisch hochgezogen, weil sie mit meiner reduzierten, jedoch genialen Farbwahl nicht einverstanden war, ich darauf wartend, dass sie mir das Blatt zurückgab und abdampfte.

Der Kindergarten war mit scheußlichen Gerüchen angefüllt, nach alten Salamibroten in Tupperwaredosen. Und von aufgeschnittenen Stempelkartoffeln. Und Bohnerwachs. Und von Pisse, weil nicht alle Kinder komplett stubenrein waren, wie man es hätte erwarten können. Während Annika wie ein Mahnmal über mir aufragte, stiegen mir all diese Düfte in die Nase, versauten mein Feng-Shui und erzeugten eine unangenehme Übelkeit in meiner Kehle. Annika grinste mich an und fuhr mir mit ihren krummen Hexenfingern durch die Frisur.

Da meine Eltern dachten, sie wären Späthippies, hatten sie nie die Sinnhaftigkeit eines gesunden Haarschnitts erkannt. Zwar ist mein Haar noch heute halblang, weil das einfach besser aussieht, aber als Kind fand ich das schrecklich. Als einziger Junge eine Matte zu haben, meine ich. Die Haare fielen mir auf die Schultern und in die Augen. Die anderen Kinder sagten, ich wäre ein Mädchen, was mir damals furchtbar peinlich war.

Die Kindergärtnerinnen fanden meinen Look ent-zück-end! Ich war schon immer etwas klein und dünn, hatte dazu dunkle, fast schwarze Augen und dann dieser Wuschelkopf – ich glaube, die hätten mich am liebsten adoptiert und als Haustier gehalten. Ich war nichts anderes als ein verdammtes Schoßhündchen, das man einfach anfassen musste.

Annika sagte: »Du malst so schöne Sachen, Jannik, aber du musst auch mal mit den anderen spielen.« Ich fürchtete, sie würde mir das Papier nicht mehr wiedergeben und mir auch noch die Stifte wegnehmen. »Und du solltest auch mal andere Farben benutzen. Braun und Rosa zum Beispiel.«

In meinem fünfjährigen Selbstverständnis nahm ich mir vor zu behaupten, das ernsthaft in Erwägung zu ziehen und in meiner Bibliothek mit einem Cognac in der Hand über diese naive Farbkombination nachdenken. Aber wieder brachte ich nur ein erbärmliches »Ah« hervor.

Total blöd, aber wenn mir jemand auf die Pelle rückt oder Angst macht, muss ich immer pinkeln. Damals schon.

Im Hintergrund grölten die anderen Kinder und freuten sich über die Leere in ihren trüben Gehirnen, die niemals die beruhigende Ästhetik von Schwarz und Rot verstehen würden. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als vergingen Minuten, während denen Annika auf mein Blatt starrte.

Mehr aus einem Reflex heraus griff ich nach meiner Zeichnung, die Annika in der Hand hielt, um sie an mich heranzuziehen – und da passierte es.

Ich weiß nicht, was für Papier wir im Kindergarten hatten. Entweder war es total minderwertig oder besonders gut. Zumindest war es außergewöhnlich, sonst wäre es nicht zu der Katastrophe gekommen.

Ich wand Annika das Blatt aus den Fingern. Der Kantenrand streifte ihr Handgelenk.

Es ist ziemlich unangenehm, wenn man sich an Papier schneidet. Ein ekelhafter Schmerz. Ist mir auch schon passiert.

Annika trat einen Schritt zurück. Sie stieß ein Seufzen aus. Im ersten Moment gab es nur ein bisschen Blut, doch dann schoss es plötzlich hervor.

Es sprudelt richtig, wenn man eine Hauptschlagader trifft, so als hätte man einen Gartenschlauch durchgeschnitten. Annika packte ihr Gelenk, aber das Blut quoll rechts und links zwischen ihren Griffeln hervor.

Annika brüllte, als hätte ich ihr den Fuß abgehackt. Sie stieß mit den Beinen gegen einen orangefarbenen Hüpfball und fiel zu Boden, wo sie wie ein zappelnder Käfer liegen blieb.

Die anderen waren verstummt. Annikas Kreischen erfüllte den Raum. Ich hatte entsetzliche Angst, weil ich nicht kapierte, was da passierte.

Offen gestanden kapiere es auch heute noch nicht. Irgendwie hatte ich dieser Kindergärtnerin mit dem Papier einen üblen Schnitt zugefügt. Ich lief zu ihr, um mein Bild zu retten. Blut quoll über den nach Bohnerwachs riechenden Linoleumboden.

»Geh weg!«, schrie sie. »Mach doch jemand, dass es weggeht!«

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte mich noch nie jemand als ›Es‹ bezeichnet.

Eine andere Betreuerin kam, ich habe ihren Namen vergessen, ich weiß nur noch, dass sie blond war. Annika kroch von mir weg, als hielte ich ein Schlachtermesser in der Hand, mit der Absicht, die Klinge in ihr großes Kindergärtnerinnenherz zu stoßen.

»Geh weg! Es soll weggehen!«

Noch nie hatte ich eine so große Menge Blut gesehen. Und auch noch nie einen Erwachsenen mit solchem Schrecken im Gesicht.

Es gibt eine Lücke in meiner Erinnerung. Als Nächstes waren meine Eltern da, und wir befanden uns im Kindergärtnerinnenzimmer, in dem es nach Kaffee und Zigarettenrauch roch. Ein heulendes Häuflein Elend, das einmal Annika, die Hexe, gewesen war, hockte neben der blonden Betreuerin. Annikas Handgelenk war mit Mullbinden umwickelt. Soweit ich weiß, saß ich auf Papas Schoß. Er kraulte mir das Haar. Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Kraulen und Wuscheln.

Ich kann mich nur bruchstückhaft an das Gespräch erinnern. Die Namenlose redete. Viele der Wörter verstand ich nicht.

Wie das so ist mit nebligen Erinnerungen, habe ich irgendwann die Lücken gefüllt, ich kann mich nicht dafür verbürgen, was sie wirklich gesagt haben und was ich hinzugefügt habe. Aber ungefähr so muss es sich abgespielt haben:

Die blonde Kindergärtnerin sagte: »Es ist ungewöhnlich, wenn ein Dreijähriger« – daran erinnere ich mich noch genau – welch altersmäßige Degradierung! – »wenn ein Dreijähriger mit so einer Aggression auftritt. Wir mussten sogar einen Arzt rufen. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert.«

Papa sagte: »Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt. Das war doch ein Unfall.«

Die Namenlose zog ihre fast unsichtbaren Augenbrauen hoch. »Sie werden verstehen, dass wir nicht so tun können, als sei mit ihrem Sohn alles in Ordnung.«

Meine Mutter, die den neuen Schreikloß namens Philomena auf dem Arm hielt, sagte: »Jannik will niemandem etwas zuleide tun. Er ist ein sensibles Kind, das sich eher zurückzieht. Er ist nicht aggressiv.«

Annika sagte: »Das ist kein Kind. Das ist ein Soziopath. Er hat gezielt einen Mordanschlag auf mich verübt. Man erkennt die Boshaftigkeit in seinen finsteren Augen.«

Die Namenlose sagte: »Wir sollten auf jeden Fall einen Psychologen hinzuziehen, der sich mal mit Jannik unterhält.«

Papa sagte: »Ich glaube, Sie haben den Arsch offen! Wir lassen uns doch von Ihnen keinen Scheiß ins Ohr setzen.«

Mein Vater war Kommunikationswissenschaftler. Sein ganzes Leben bestand aus Sprache. Man hätte annehmen können, dass er sich etwas gewählter auszudrückte. Das war ihm sonst immer wichtig.

Annika sagte: »Ihr Sohn ist böse. Haben Sie sich mal seine Zeichnungen angesehen? Er malt nur Bilder voller Blut und Tod.«

Meinen Eltern wurde es zu bunt. Sie erhoben sich. Papa nahm mich an die Hand. Er sagte: »Das dürfte es dann wohl gewesen sein.« Als hätten sie sich telepathisch abgestimmt, drehten er und Mutti sich um, und wir verließen das nach Kaffee und Zigarettenrauch riechende Zimmer.

»Ich werde Sie verklagen!«, brüllte Annika hinter uns her. »Wehret den Anfängen! Sie züchten einen soziopathischen Serienmörder heran. Stille Wasser leiten Verbrechersyndikate und begehen Massenvergewaltigungen.«

Meinen Eltern ging die Drohung glatt am Arsch vorbei. Als wir in unserem Auto saßen (keine Ahnung, was für eine Marke es war, aber es hatte bunte Punkte auf der Seite und war nicht silberfarben), rechnete ich damit, dass es Stress geben würde. Meine Eltern sagten nichts, und das war immer ein schlechtes Omen. Wenn sie nicht sprachen, brüteten sie was aus. Der Schreikloß neben mir pennte.

Nach einer Weile des Schweigens, an dem ich mich rege beteiligte, merkte ich, dass ich mir irgendwann im Zuge der blutigen Ereignisse in die Hose gepinkelt hatte, und das verschlimmerte die Situation.

Draußen regnete es. Ich beobachtete die quietschenden Scheibenwischer an der Windschutzscheibe und wartete darauf, dass sich meine Eltern zu mir umdrehen und mich fragen würden, ob ich unter gewissen Umständen vielleicht doch ein Soziopath sei (was auch immer das sein mochte). Sie drehten sich nicht um. Stattdessen fabrizierten sie plötzlich ein merkwürdig grunzendes Geräusch. Ich brauchte einen Moment, ehe ich kapierte, dass sie lachten.

Mutti wandte sich zu mir um und streichelte mir die Wange. »Oh, Schätzchen« – sie nennt mich bis heute so, ich habe es aufgegeben, ihr das abzugewöhnen – »Schätzchen, du brauchst keine Angst zu haben. Magst du den Kindergarten?« Eine wahrhaft absurde Frage. Ich schüttelte den Kopf. »Du brauchst da nicht mehr hin. Pass auf, daheim machen wir was Schönes: Du darfst jetzt erst mal baden, und dann backen wir zusammen Pfannkuchen. Hast du Lust?« Ich nickte, weil ich sowohl unsere Badewanne als auch Pfannkuchen klasse fand.

Mutti sah Papa an, und wieder lachten sie, obwohl sie die Köpfe schüttelten. »Was für Kühe«, sagte Papa.

Meine Eltern wollten nicht, dass ich Angst habe. Keine Ahnung, ob sie mit mir alles richtig gemacht haben, sie sind jedenfalls nicht Schuld daran, dass ich verkorkst bin und jetzt auf einem Hochhaus sitze, von dem ich runterzuspringen will.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (eBook)
9783945298428
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Erwachsen werden Geschwister Familie Stieffamilie Spannungsroman Jugend-roman Junge literatur Spannung

Autor

  • Jens Lossau (Autor:in)

Nach ZAPPING und PHOBIE präsentiert Jens Lossau einen weiteren All-Age Roman der den Leser mit viel Einfühlungsvermögen in die Lebenswelt des 14jährigen Jannik eintauchen lässt. In „Nicht springen!“ schafft Lossau erneut eine emotionale Atmosphäre die uns als Leser berührt ohne dabei auf Humor zu verzichten.
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Titel: Nicht springen! Appetizer-Ausgabe