Zusammenfassung
Ihre Stellengesuch-Anzeige ist ein Volltreffer: Ihr wird ein Job als sozialpädagogische Familienhilfe angeboten. Mit Feuereifer stürzt sie sich in ihre Aufgabe und trifft auf Menschen, die sie bislang nur aus der Theorie ihres Studienfaches kannte. Je länger Gloria arbeitet, desto mehr verändert sich ihr Blickwinkel auf das, was sie bis dato für normal hielt. Selbst ihre eigene Liebesbeziehung entbehrt nicht eines gewissen Wahnsinns: Nichts ist so skurril, wie das Leben selbst
Das weiß niemand besser als die Autorin. Liz Mar war jahrelang in der sozialpädagogischen Familienhilfe tätig und hat ihre Erfahrungen zu diesem Roman verarbeitet.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Über dieses E-Book
Gloria braucht dringend mehr Geld, um ihre sündhaft teure Dreizimmerwohnung zu finanzieren. Ihre Stellengesuch-Anzeige ist ein Volltreffer: Ihr wird ein Job als sozialpädagogische Familienhilfe angeboten. Mit Feuereifer stürzt sie sich in ihre Aufgabe und trifft auf Menschen, die sie bislang nur aus der Theorie ihres Studienfaches kannte. Je länger Gloria arbeitet, desto mehr verändert sich ihr Blickwinkel auf das, was sie bis dato für normal hielt. Selbst ihre eigene Liebesbeziehung entbehrt nicht eines gewissen Wahnsinns: Nichts ist so skurril, wie das Leben selbst …
Das weiß niemand besser als die Autorin. Liz May war jahrelang in der sozialpädagogischen Familienhilfe tätig und hat ihre Erfahrungen zu diesem Roman verarbeitet.
Impressum
Neuausgabe Februar 2016
Copyright © Erstausgabe 2011, Natalie Repin und Martina Wolf
Copyright © Neuausgabe 2016, dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-94529-845-9
Covergestaltung: Dipl.-Des. Birgit Stolze
unter Verwendung eines Motivs von
© PeJo/fotolia.de, © Superingo/fotolia.de, © shootingankauf/fotolia.de, © Oleg Dudko/123rf.com und © Polina Ryazantseva/123rf.come
Korrektorat: Johanna Stotz
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Liz May
Feinripp und
Schlagsahne
Aus dem Leben einer Familienhelferin
Roman
1
Der drohende Kollaps ihrer Finanzmittel verfolgte Gloria bis in ihre Träume.
Sie fragte sich, ob es klug gewesen war, ihre Wohngemeinschaft zu verlassen und mit Henk zusammen diese sündhaft teure Wohnung anzumieten. Andererseits, wenn sie so zurückdachte an die Zeit im Studentenwohnheim … Das winzige Zimmer, das sofort Überlegungen in ihr ausgelöst hatte, was der Tierschutzverein gesagt hätte, hätte es sich um eine Hundehütte gehandelt.
Oder an ihren Ex-WG-Mitbewohner Nick, den Casanova, mit seiner weitverzweigten weiblichen Verwandtschaft. Der, Henks katholischer Erziehung zuliebe, praktisch jeden Morgen eine andere Schwester, Cousine, Nichte oder jung gebliebene Tante beim Frühstück präsentierte, bis sich Glorias Befürchtung, mal die eine oder andere Verwandte mit demselben Namen anzusprechen, zur Panik gesteigert hatte.
Und immer wieder dieser Mangel an Privatsphäre und die Schwierigkeiten ihrer Hausgenossen bei der Unterscheidung zwischen Mein und Dein. So konnte beispielsweise Henk zwar wahrhaft kulinarische Events zaubern, aber eben aus den Vorräten aller Mitbewohner.
Nicht zuletzt an den Krach, die vielen Partys, die zwar stimmungsaufhellenden Schlafmangel nach sich zogen, aber auch starke Schwankungen in Konzentration und Merkfähigkeit, was ihrem Studienerfolg nicht gerade zuträglich gewesen war.
Doch, doch, die Entscheidung war schon richtig gewesen, aber nun brauchte Gloria mehr Geld. Henk zahlte ja nur für ein Zimmer, den Rest musste sie berappen und ihre Reserven neigten sich dem Ende zu. Sie brauchte Arbeit, und zwar schleunigst. Die Aushänge, die sie schon vor Tagen in einigen Supermärkten und an der Uni gemacht hatte, hatten ebenso wenig bewirkt wie ihre Meldung beim Arbeitsamt. Sie musste mehr Gas geben.
Kurzerhand schwang sich Gloria aus dem Bett, griff zum Telefon und improvisierte eine Zeitungsanzeige: Studentin der Sozialpädagogik sucht Job im Bereich der Sozialarbeit. Nun hieß es warten, eine Tätigkeit oder eher Untätigkeit, für die Gloria, ungeduldig und tatendurstig, nicht geboren war.
Sie erledigte ihr morgendliches Toilettenritual und brach, wie immer mit leerem Magen, zur Uni auf. Nach dem Genuss ihres Schwarzen Frühstücks, ein schwarzer Kaffee und eine Zigarette, hastete Gloria zum Seminar über Scheidungsrecht bei Professor Matz. Professor Matz war sehr streng. Er führte Anwesenheitslisten und wer unentschuldigt fehlte, durfte am Ende des Semesters die Prüfung nicht ablegen. Da Gloria also zumindest physisch anwesend sein musste, beschloss sie, sich ganz nach hinten zu setzen, wo sie relativ unbehelligt schlafen konnte, wenn Langeweile und Müdigkeit ihren Geist übermannten.
Wider Erwarten entwickelte sich das Seminar aber sehr spannend. Nach dem Motto „Wie würden Sie entscheiden?“ sollten die Studenten zunächst selbstständig Fallbeispiele aus der Kanzlei von Professor Matz bearbeiten. Danach wurden die Fälle im Plenum unter den rechtlichen Aspekten beleuchtet und auseinandergenommen und sodann paragrafengetreu wieder zusammengesetzt. Das ist toll, dachte Gloria, sollte sich jemand von meinen Freunden oder Freundinnen mit Scheidungsabsichten tragen, kann ich sie richtig gut beraten.
Nach der Vorlesung schlenderte Gloria mit ihrer Kommilitonin Hannah zur Mensa. Auf dem Weg bat Hannah um Glorias Hilfe bei einem, wie Hannah sagte, schier unlösbaren Problem.
„Was hast du denn für ein Problem?“, fragte Gloria neugierig.
„Ich habe einen neuen Mitbewohner, einen Austauschstudenten aus Spanien, der spricht kein Wort Deutsch!“
„Klingt ja spannend!“
„Na ja, das führt aber zu Missverständnissen“, führte Hannah aus.
„Welcher Art?“
„Ach, bei so Kleinigkeiten, was die Hausordnung anbelangt!“, bekam Gloria Auskunft.
„Was, ihr habt eine Hausordnung? So was gab es bei uns in der Wohnung nicht, oder es ist mir entgangen!“
„Na, hör mal! Gerade wenn mehrere Menschen zusammenwohnen, muss es doch eine Ordnung geben!“
„Wofür zum Beispiel?“, bohrte Gloria.
„Na, zum Beispiel, was die Küchenbenutzung anbelangt!“
Gloria, allzeit hilfsbereit, befand, dass die Erfüllung von Hannahs Bitte weder ihre sozialen noch ihre sprachlichen Fähigkeiten überstieg, schließlich war sie Halbspanierin, und beglückte Hannah mit einer Zusage.
Zum Essen gab es heute einen kleinen Salat und anschließend zerkochtes Gemüse in einer schleimigen Sauce, Kartoffelbrei und Spiegelei.
Gloria setzte sich mit Hannah an einen Tisch am Fenster mit herrlichem Blick ins Grüne. Bald gesellten sich noch andere Studenten zu ihnen, die ebenfalls die schöne Aussicht genießen wollten. Innerlich hämisch kichernd fragte sich Gloria, wie lange die es wohl bei ihnen aushalten würden. Hannah nahm nämlich für gewöhnlich Aussehen oder Konsistenz des Essens zum Anlass, eine Anekdote aus ihrer Arbeit zum Besten zu geben. Gloria konnte Hannah schon ansehen, dass ihr eine neue Episode auf der Zunge brannte. Und tatsächlich: Hannah begann das Gespräch mit der Eröffnung, dass sie heute Morgen schon bei „ihrer“ Arztehefrau gewesen sei.
Von ihrem Tischnachbarn wurde sie gefragt, in welchem Job sie denn nebenbei arbeite.
Sie sei examinierte Krankenschwester und arbeite bei einem Pflegedienst, klärte sie ihn auf.
„Erzähl, was war denn wieder los bei der Arztehefrau?“, forderte Gloria sie auf, in der Vorfreude auf die Reaktion, die Hannahs Erzählungen üblicherweise auslösten.
Mit leicht angewidertem Gesicht legte Hannah los: „Heute war Duschtag und die Frau ist so was von pingelig. Der reicht es nicht, wenn ich ihr die Füße abtrockne, ich muss sie auch noch richtig trocken föhnen.“
„Na, das ist doch vernünftig“, mischte sich der Kommilitone wieder ins Gespräch. „Wie schnell hat man sich einen Fußpilz eingefangen.“
„Ja, wenn’s nur die Füße wären. Aber obendrein will sie auch den Po noch geföhnt haben. Dazu bückt sie sich dann und hält sich am Waschbeckenrand fest. Der Duft von der Sauce auf dem Kartoffelbrei erinnert mich an den Geruch von ihrem Hintern.“
An dieser Stelle tauschten die anderen die ersten angeekelten Blicke, harrten jedoch noch tapfer aus, nach dem Motto „Mit einem Messer im Rücken gehen wir noch lange nicht nach Haus“, bis Hannah mit der zweiten Geschichte begonnen hatte.
„Bei dem alten Meier war ich auch wieder. Und der Kartoffelbrei erinnert mich an den Inhalt von seiner Windel.“ „Oh, dann ist er aber auf dem Weg der Besserung! Gestern sahen seine Stoffwechselendprodukte noch aus wie Champignoncremesuppe“, versetzte Gloria erfreut. Mit dieser Äußerung verspielten Hannah und Gloria die Sympathie ihrer Kommilitonen endgültig. Mit dem Ausruf „Bah, seid ihr eklig!“ nahmen sie ihre Teller und setzten sich an einen anderen Tisch außer Hörweite.
Verärgert über diese Empfindlichkeit rief Hannah ihnen nach: „Ja, so ist das Leben, in meinem Beruf kann man sich Sensibilität nicht leisten!“
Nach dem Mittagessen ging es bis zum späten Nachmittag mit Vorlesungen weiter. Danach brachen die beiden Frauen in Richtung Hannahs Wohnung auf. Unterwegs schilderte Hannah die Situation. Der spanische Austauschstudent sei dem Zimmer in ihrer Wohnung, das schon lange leer stehe, vom Hausmeister zugeteilt worden. Nun müssten sie beide wohl oder übel miteinander klarkommen, und das sei fast unmöglich für sie. Sie selbst hänge ja der vegetarischen Einstellung zum Essen an, der Spanier hingegen sei ein fanatischer Fleischfan, ereiferte sie sich. Jeden Tag rieche es in ihrer Wohnung nach gebratenem Fleisch und sie fürchte, das nicht länger ertragen zu können.
Kaum bei Hannah angekommen, war unschwer zu erraten, dass sich der südländische Carnivor in der Küche aufhielt, denn es brutzelte und schmurgelte und der Duft von gebratenem Fleisch hing in der Luft. Hannah bedachte ihn mit einem Blick, als sei er ein Schwerverbrecher, wandte sich zu Gloria und forderte: „Klär das jetzt sofort mit ihm!“
Brav legte Gloria den Schalter auf Spanisch um und sprach ihn an. „Hola, cómo estás? Ich bin Gloria, eine Freundin von Hannah. Sie hat mich gebeten, die Regeln zu übersetzen, die hier gelten.“
Er sah sie an, als dächte er: „Was will die denn?“, was ja durchaus verständlich war. Nichtsdestotrotz nannte auch er seinen Namen: „Hola, mi nombre es Carlos Gomez.“ „Alle Bewohner hier sind Vegetarier und alle beschweren sich, dass es den ganzen Tag nach Fleisch riecht.“
Entgeistert rief Carlos aus, er müsse sich schließlich ernähren. Auf Glorias Frage, ob er nicht auch mal Gemüse essen könne, erwiderte er, für Verzierungen habe er keine Zeit, er sei schließlich Student.
Da Gloria aus sehr persönlichen Motiven heraus Vegetarierin war, aber im Grunde ihres Herzens dachte, dass jeder essen soll, was er vor sich verantworten kann, verzichtete sie darauf, ihn zu missionieren. Fleisch und Fisch gehörten in Spanien nun mal unabdingbar zu den Mahlzeiten.
Hannah warf ein: „Und übrigens kannst du ihm gleich auch noch sagen, dass er nicht im Stehen pinkeln soll.“
Gloria sagte: „Hannah, das ist doch intim und privat. Der arme Kerl kann doch auf der Toilette machen, was er will. Und wenn’s ein Kopfstand ist, Hauptsache, er hinterlässt die Toilette sauber.“
„Du hast doch selber mit drei Männern zusammengewohnt“, erboste sich Hannah, „wie hast du denn das gemacht?“
„Ich? Ich hab ein Schild über die Spülung gehängt: Tritt näher an das Becken, Schwein, der Nächste könnte barfuß sein.
„Das hat gereicht?“
„Ja klar. Jeder wusste doch, was ich meinte!“
Carlos wandte sich zu Gloria und fragte, was denn noch sei.
Hannah wünsche sich, dass er sich auch für sein kleines Geschäft künftig auf die Toilette setze, tastete sich Gloria vorsichtig voran.
„Ich werde mich nicht mit zwei jungen Frauen darüber unterhalten, wie ich mich auf der Toilette verhalte. Das ist ja nun wirklich intim und privat!“, entrüstete sich Carlos. Im Übrigen finde er, Vegetarier seien Tierquäler, weil sie dem Vieh das ganze Futter wegfräßen.
Gloria zog es vor, diese Schimpftirade nicht ins Deutsche zu übertragen, sondern setzte Hannah auseinander, Carlos sei ja ohnehin nur zwei Monate da und Hannah solle sich in Toleranz üben und ihm eine Chance geben. Sie sei aber bereit, noch mal zu vermitteln, falls es ernsthafte Probleme geben sollte.
Mit mürrischer Miene gab sich Hannah geschlagen und weil der Fleischgeruch nun auch Gloria zu viel wurde, verabschiedete sich diese eilig und fuhr nach Hause.
Sie drehte gerade den Schlüssel im Schloss, als sie das Telefon klingeln hörte.
„Gloria Grothe“, meldete sie sich nach dem vierten Klingeln.
„Guten Abend, mein Name ist von Hall, ich bin vom Arbeitsamt informiert worden, dass Sie Arbeit suchen“, verkündete eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
Glorias Herz tat einen Sprung. „Oh, ja, genau, wie schön, dass Sie anrufen!“
Frau von Hall erläuterte, sie sei Tagesmutter und brauche noch Unterstützung bei der Betreuung der Kinder. Sie wolle Gloria gern zu einem Termin einladen, an dem sie sich kennenlernen und Gloria probearbeiten könne.
„Wie alt sind die Kinder denn?“, fragte Gloria nach.
„Das jüngste ist sieben Monate und das älteste dreieinhalb Jahre alt.“
„Oh, wie süß! Ja, wann könnte ich denn kommen?“
Sie verabredeten sich für den kommenden Nachmittag, Frau von Hall nannte ihre Adresse und Telefonnummer, und nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, gesellte sich Gloria mit einem seligen Lächeln zu Henk, der rauchend in der Küche saß.
„Schön, schön“, begrüßte er sie, „ich hab schon mitgekriegt, dass du faule Nuss endlich einen Job hast!“
„Was heißt hier faule Nuss? Das Studium allein lastet mich eigentlich schon aus! Gib mir auch eine!“
Gemeinsam rauchten sie ihre Zigarette und Gloria zog sich dann, ausgerüstet mit einem Käsebrot und einem Glas Rotwein zu einem gemütlichen Fernsehabend zurück. Nicht lange, und Henk erschien wieder in der Tür. In der Hand hielt er diesmal einen Stift, unter seinem Arm klemmte ein Zeichenblock.
„Willst du mal meine Zeichnungen sehen?“, fragte er.
„Oh ja, zeig mal her!“ Gloria griff sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher wieder ab, es lief eh nur langweiliger Schrott.
Henk pflanzte sich neben sie und schlug seinen Block auf. Schon das erste Bild schlug Gloria in Bann. Ein Maiskolben, so verblüffend naturgetreu und detailgenau, dass man versucht war, ihn vom Papier zu nehmen und zu kochen.
„Ist das etwa ein Rebus, willst du mich zum Essen einladen?“, fragte Gloria kichernd nach der Betrachtung dreier weiterer Zeichnungen, einer Zwiebel, eines Stuhles und eines Weinglases. Dann stieß sie auf das Portrait einer Frau. Einer alten Frau, die Runzeln fein gezeichnet, der Blick ein wenig trübe, das Haar wollig dauergewellt. Die Züge weich und etwas verschwommen. Das Gesicht weckte sofort Sympathie.
„Die sieht aber lieb aus!“, rief Gloria, „wer ist das, deine Oma?“
„Gut geraten“, sagte Henk.
„Mensch, weißt du eigentlich, was für ein Talent du hast? Das sind fantastische Zeichnungen, brauchst dich nicht zu verstecken! Also, ich wusste schon, dass man als Architekt gut zeichnen können muss, aber das hier ist Kunst, ehrlich, ich würde mir jedes Einzelne an die Wand hängen.“
„Ich kann dich ja mal zeichnen“, schlug Henk vor.
„Das würdest du tun?“ Gloria klatschte begeistert in die Hände. „Was muss ich denn dazu machen?“
„Du musst nur ganz still sitzen bleiben.“
„Au klasse! Mach das und ich kucke Fernsehen, dann kann ich auch stillsitzen.“
Während Henk seinen Kohlestift zur Hand nahm, schaltete Gloria den Fernseher wieder an und folgte Henks Anweisungen bezüglich Kopfhaltung und Sitzposition. Eine quälend lange Stunde versuchte sie sich auf das Programm zu konzentrieren, das leise Kratzen von Henks Stift im Ohr und vor Neugier nah am Platzen.
„Fertig“, erlöste Henk sie endlich und Gloria beugte sich eifrig zu ihm und begutachtete sein Werk.
„Wahnsinn, das bin ja wirklich ich! Schenkst du mir das?“
„Eigentlich verschenke ich Bilder nicht gerne, aber weil du es bist …“ Vorsichtig löste er das Blatt aus dem Block und reichte es Gloria. „Halte es in Ehren, ich muss jetzt noch etwas für die Uni vorbereiten.“
„Danke, Henk, das ist wirklich ein sehr schönes Geschenk“, sagte Gloria, während er seine Sachen einsammelte und hinausging. Glücklich vertiefte sich Gloria noch einmal in die Kontemplation ihres Portraits. Fotos von sich hasste sie, sie fand, dass sie auf Fotos immer grässlich aussah, aber Henks Zeichnung gefiel ihr wirklich. Irgendwie würde sie gleich am nächsten Tag Zeit finden, einen Rahmen zu besorgen.
Der Tag an der Uni hatte nicht viel Spannendes zu bieten, was wohl auch daran lag, dass Gloria in Gedanken schon seit dem Aufstehen bei ihrer Verabredung war.
An der Adresse, die ihr Frau von Hall genannt hatte, fand sie ein wunderschönes Einfamilienhaus vor, mit einer ausgedehnten Gartenanlage, alles machte einen sehr gepflegten Eindruck. Gloria klingelte, eine teuer gekleidete, sorgfältig geschminkte Frau, knapp über fünfzig, öffnete. Ihre langen Fingernägel waren knallrot lackiert, die Haare hochgesteckt und eine Wolke von Chanel N° 5 umwehte sie. In einer Ecke ihres Gehirns fand Gloria das ein wenig befremdlich. Tagesmütter hatte sie sich immer zerzaust, eher leger gekleidet, mit Spucktuch über der Schulter vorgestellt. Wenn man den ganzen Tag mit kleinen Kindern zu tun hat, macht man sich doch nicht so schick, dachte Gloria.
Die Dame stellte sich vor: „Guten Tag, bitte treten Sie ein! Mein Name ist Berta von Hall.“
Glorias Erstaunen wuchs noch, als sie eintrat. Das Haus war durchweg luxuriös eingerichtet mit Möbeln, die nicht so aussahen, als seien sie geeignet, Kinder im Raum herumturnen zu lassen, denn überall standen jede Menge kleine, filigrane Glaskunstfiguren. Kinder konnte Gloria tatsächlich auch nicht entdecken.
„Sind die Kinder denn schon alle zu Hause oder ist heute keine Betreuung?“, fragte sie verwundert.
„Doch, doch, ich bringe Sie gleich hin“, erwiderte die Dame.
Aha, dachte Gloria, vielleicht im Nord- oder Südflügel. Doch weit gefehlt. Frau von Hall brachte sie zu einer Treppe, die in den Keller führte, in einen Raum, der circa 20 Quadratmeter groß war und nur über zwei kleine vergitterte Fenster verfügte. An einer Wand standen Regale mit Spielzeug, Büchern und Kuscheltieren. Auf der anderen Seite des Raumes fand sich ein langer Tisch mit Kinderstühlchen drumherum und einer an der Wand befestigten Sitzbank. Der Fußboden bestand aus grün gestrichenem Beton, auf dem sich ein kleiner, gelbweißer Flickenteppich Marke Ikea vergeblich bemühte, dem Raum etwas Gemütlichkeit zu verleihen. Insgesamt wirkte der Ort kalt, lieblos und unbehaglich. Da gerade Essenszeit war, saßen die Kinder, sieben an der Zahl, um den Tisch herum und stocherten in ihrem Brei, der sehr unappetitlich aussah. Mitten im Geschehen stand eine weitere Frau, die schon eher Glorias Bild einer Tagesmutter entsprach. Abgehetzt und entnervt, mit aufgelöster Frisur und, na also, einem Spucktuch über der Schulter, versuchte sie allen Kindern gleichzeitig zu helfen. Der Blick, mit dem sie Gloria bedachte, schien zu sagen: Gott sei Dank, endlich naht Rettung!
Die Dame des Hauses schob Gloria in den Raum, sagte: „Meine Praktikantin wird Ihnen alles erklären“, und ging wieder hinaus.
Gloria stellte ihre Tasche ab und gesellte sich zu der Praktikantin. „Hallo, ich bin die Gloria.“
„Hallo, ich bin Manuela.“
„Na, du bist sicher froh, dass du Verstärkung bekommst, sieben Kinder sind doch ein bisschen viel für einen allein.“
„Oh nein“, antwortete Manuela. „Normalerweise sind es zehn, drei sind krank, und nein, von Verstärkung kann keine Rede sein, ich hab das hier gemacht, weil ich im Rahmen meiner Ausbildung zur Kinderpflegerin ein Praktikum absolvieren musste. Das ist morgen zu Ende, dann bist du alleine hier.“
„Zehn Kinder?“ Ogottogott, dachte Gloria, wie soll ich das denn schaffen? Andererseits, unsere Nachbarin, die Frau Krämer damals, hatte zwölf und war auch die meiste Zeit allein. Also muss es ja zu schaffen sein. Allerdings waren die nicht alle im gleichen Alter.
Ihre leise Verzagtheit heldenhaft verbergend, erkundigte sich Gloria näher nach den Kindern. Sie stammten aus wenig begüterten Spätaussiedler-Familien, die die Betreuung benötigten, damit die Eltern ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Gloria setzte sich neben ein kleines Mädchen mit riesigen rehbraunen Augen in einem ganz weißen, engelhaften Gesicht, umrahmt von braunen Locken, das mit einem spitzbübischen Lächeln sagte: „Hallo Pischka.“
Gloria sagte: „Mein Name ist Gloria.“
Darauf die Kleine: „Nein, du bist eine Pischka!“
Gloria blickte ratlos zu Manuela, die ebenso ratlos die Brauen hochzog und den Kopf schüttelte, was wohl bedeutete, dass sie Gloria nicht weiterhelfen konnte, und so beschloss Gloria, sich auf jeden Fall bei nächster Gelegenheit zu erkundigen, was eine Pischka war, vermutlich der russische Ausdruck für Erzieherin oder Betreuerin.
Manuela führte sie in die angrenzenden Räume. Durch einen langen Flur gelangte man in einen kleinen Raum, der als Waschküche fungierte. Gegenüber lag das Wickelzimmer mit einer Wickelkommode und Stapeln von namentlich gekennzeichneten Windeln. Auch hier kein Zeichen von Gemütlichkeit oder fröhlicher, kindgerechter Gestaltung.
Bestürzt fragte sich Gloria, was Eltern dazu bewegen konnte, ihre Kinder hierher zu bringen. Gab es einen solchen Mangel an adäquaten Betreuungsplätzen? Konnten sich die Eltern nichts Besseres leisten? Oder war es ihnen schlichtweg egal, unter welchen Umständen ihre Kinder betreut wurden?
Die Kinder taten ihr richtig leid. Das sah nach einem schlechten Start ins Leben aus. Gloria hatte den heftigen Wunsch, einiges zu verändern, um die Kinder so fördern zu können, wie sie es für erstrebenswert hielt. Doch vielleicht bestand bei der „Leiterin“ dieser Kindergruppe gar kein Interesse, den Kindern eine heimelige, geborgene Atmosphäre zu bieten? Vielleicht finanzierte sich Frau von Hall auf diese Weise einfach nur ihren Luxus? In diesem Fall hätte sie ihr Haus zweifelsohne optimal genutzt.
Gloria verbrachte den Nachmittag mit den Kindern, bis sie abgeholt wurden. Zusammen mit dem letzten Kind verließ sie den Keller und besprach mit Frau von Hall die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung. Frau von Hall bot ihr an, dass sie sofort am nächsten Tag die Arbeit aufnehmen könne, sie werde ihre Leistung mit drei Euro pro Stunde honorieren.
Jetzt musste Gloria ernsthaft schlucken. Drei Euro?, dachte sie. Das ist doch eindeutig zu wenig! Doch sie hatte ja eigentlich keinen Vergleich. Im Moment war der einzige Hinweis auf Unterbezahlung ihr blödes Gefühl im Bauch. Doch sie brauchte den Job so dringend, also sagte sie zu, aber nur aus der Not heraus.
Mit nagenden Zweifeln fuhr Gloria nach Hause, hatte kaum die Tür aufgeschlossen, als sie das Telefon klingeln hörte. Sie hechtete zum Apparat. Vielleicht war es ja Frau von Hall, die gleich sagen würde, dass die Bezahlung doch zu niedrig sei, und sie auf fünf Euro erhöhen würde.
„Guten Abend, hier ist Frau Klimm.“
„Guten Abend.“
„Frau Grothe?“
„Ja, die bin ich, Entschuldigung, ich bin gerade erst zur Tür herein!“
„Ich habe Ihre Anzeige gelesen, Frau Grothe. Sie suchen Arbeit?“
„Ja.“
„Wunderbar, mein Mann ist Psychologe und arbeitet mit dem Jugendamt zusammen. Wir brauchen noch Leute, die als Spfh tätig sind.“
„Entschuldigung, als was?“
„Als S p f h , sozialpädagogische Familienhilfe.“
Sie erklärte Gloria, mit welchen Aufgaben eine sozialpädagogische Familienhilfe betraut ist. Es gehe darum, Familien in schwierigen Lebenssituationen so zu unterstützen, dass sie den Weg aus der Krise herausfänden. Dabei habe man es mit unterschiedlichen Problembereichen zu tun. Schwierigkeiten bei der Erziehung der Kinder, Existenzsicherung, Beziehungskrisen und vieles mehr.
„Hätten Sie daran Interesse?“
„Ja, klar.“
„Sie bekommen dreißig Euro.“
„Am Tag?“
„Nein“, sagte Frau Klimm und an ihrem Ton hörte Gloria, dass sie sich leicht veräppelt fühlte, „pro Stunde!“
Gloria bekam weiche Knie.
„Das klingt sehr interessant!“
Frau Klimm ließ ein angenehmes Lachen hören und meinte: „Mein Mann wird Sie gleich noch mal anrufen und ein Vorstellungsgespräch mit Ihnen vereinbaren.“
„Ja, äh, kein Problem, äh, ich bin jetzt zu Hause. Vielen Dank“, haspelte Gloria und legte zitternd den Hörer auf.
Das konnte doch nicht wahr sein. So viel Glück! Wie hypnotisiert starrte sie auf das Telefon. Sie traute sich nicht mal auf die Toilette zu gehen vor Angst, sie könnte den Anruf verpassen.
Genau in diesem Moment kam Henk herein.
„Gloria, ich muss dringend Tom anrufen!“
„Henk, wenn du jetzt das Telefon anfasst, gibt’s eine Leiche, und ich bin’s nicht!“
„Wartest du auf den Anruf vom Traumprinzen, oder was?“
„Nein, auf den Anruf von einem, der mir dreißig Euro die Stunde zahlen will.“
Henk blinzelte unsicher: „ Bist du sicher, dass das was Seriöses ist?“
Gereizt entgegnete Gloria: „Das ist der ganz normale Stundenlohn einer Geisteswissenschaftlerin! Du hast jetzt noch mal Zeit, deine Studienwahl zu überdenken. Das Land braucht fähige Pädagogen, mit gestrandeten Architekten kann man die Straße pflastern!“, worauf Henk sich brummelnd in sein Zimmer trollte.
Erleichtert ließ sich Gloria auf den Stuhl neben dem Telefon fallen und fieberte weiter dem Anruf entgegen. Sie würde hier notfalls auch eine Woche sitzen bleiben. Tausend Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Dreißig Euro! Wie lange musste ein Bäcker dafür Brötchen verkaufen?, dachte sie, wie viele Haare eine Friseurin schneiden? Wie lange müsste ich bei Frau von Hall dafür arbeiten, wie viele Pampers wechseln und Rotznasen putzen? Kann das überhaupt sein? Vielleicht hab ich mich auch verhört, falls es sich nicht überhaupt um einen schlechten Scherz handelt. Dreißig Euro pro Stunde im sozialen Sektor! Ich will diesen Job! Keine Fahrten nach Spanien mehr, um dort mit Immobilienverkäufen das überzogene Konto zu füllen, niemals Kinderbetreuung bei Frau von Hall! Wie schön wäre das!
Als das Telefon endlich klingelte, brauchte Gloria mehrere Sekunden, um sich aus diesen Gedanken zu lösen und abzuheben.
„Gloria Grothe.“
„Klimm hier, guten Abend, Sie hatten schon mit meiner Frau gesprochen?“
„Ja richtig, guten Abend, Sie suchen Spfhs.“
„Wissen Sie, worum es da geht?“
„Ja, so im Groben, und ich interessiere mich sehr dafür!“
„Ihre Anzeige hat mich an meine eigene Studentenzeit erinnert. Ich hab auch mal eine Anzeige in die Zeitung gesetzt. Darum hab ich mir gedacht, ich probier das mal aus. Ich schlage vor, dass wir uns treffen, um persönlich miteinander zu sprechen und die Details zu klären.“
„Ja, sehr gerne.“
„Okay, wir könnten uns morgen Nachmittag um 15 Uhr treffen. Sagen wir in der Kantine vom real-Kauf?“
„Ja, kein Problem, das würde sehr gut passen.“
„Woran werde ich Sie denn erkennen?“
„Ich hab lange, dunkle Haare und leg ein Buch vor mich auf den Tisch, glauben Sie, das reicht?“
„Ja, wir werden uns schon finden. Bis morgen dann.“
Gloria ließ den Hörer auf die Gabel fallen, hüpfte und schmiss brüllend die Arme hoch: „Ja, ja, ich hab den besten Job!“
Prompt kam Henk aus seinem Zimmer.
„Was machst du denn für einen Lärm hier?“
„Das ist kein Lärm, das ist ein Freudentanz! Wenn dir das zu viel Leben ist, kannst du ja ins Altenheim ziehen!“, rief Gloria.
Henk stöhnte. „Kann ich dann jetzt endlich telefonieren?“
„Nee, nee, jetzt muss ich mit meinen Freunden telefonieren, das muss gefeiert werden. Ich hab einen super Job, ich werd rei-heich!“
Sie hängte sich wieder an den Apparat und rief als Erstes Hannah an. Vor lauter Aufregung verwählte sie sich zweimal, aber schließlich hatte sie Hannah an der Strippe.
„Hannah“, schrie Gloria in den Hörer, „warum noch studieren, ich bin jetzt schon am Ziel angekommen. Du weißt doch, dass ich ne Anzeige in der Zeitung hatte wegen einem Job? Ja, den hab ich jetzt und die zahlen dreißig Euro die Stunde. Kannst du Dreisatz rechnen? Dann kannst du dir jetzt ausrechnen, wie viele Ärsche du für dreißig Euro trocken fönen musst! Stell dir das mal vor!“
Hannah war skeptisch und wohl auch leicht angesäuert. „Dreißig Euro im sozialpädagogischen Bereich? Das kann ich mir nicht vorstellen. In der Branche arbeitet man doch aus Idealismus.“
„Nee, aus Idealismus bin ich Vegetarierin, aber nicht arm! Lass uns das begießen. Wir treffen uns heute Abend im Schweinehof. So gegen elf?“
„Okay, bis später.“
Die Nächste war Sandra. Sandra zeigte sich schon aufgeschlossener.
„Wow, das ist ja toll. Meinst du, die können noch jemanden gebrauchen?“
Gloria kicherte. „Wenn ich erst mal drin bin, kann ich ja mal nachfragen. Ich treffe mich um elf mit Hannah im Schweinehof, komm doch auch, dann feiern wir.“
„Na hör mal, das Vorstellungsgespräch ist doch erst morgen!“
„Ach Quatsch, egal wie die morgen rüberkommen, ich nehm den Job auf jeden Fall. Morgen geht’s ja nur noch um die Rahmenbedingungen und meine Kontoverbindung, damit er pünktlich überweisen kann!“
Sandra lachte aus vollem Hals.
„Na, wenn du meinst … gut, dann treffen wir uns nachher. Selbe Stelle, selbe Welle. Bis dann.“
Wieder tauchte Henk neben Gloria auf, ein hündisches Betteln in den Augen: „Kann ich denn jetzt mit Tom telefonieren?“
„Was willst du denn wieder von Tom?“
Er erklärte, dass er für sein Architektur-Modell, das er in wochenlanger Arbeit für seine Hausarbeit gebaut hatte, noch eine Farbe brauchte und dass Tom ihn beraten sollte. Stolz führte er Gloria in sein Zimmer, präsentierte ihr sein Werk und wies auf all die liebevollen Details hin. Es sah wirklich toll aus. Ein ganz modernes Wohn- und Bürogebäude mit Flachdach und viel Glas, auf eine Platte geklebt und mit einer Außenanlage versehen. Da waren Bäume und Wege und sogar Spaziergänger mit Hund.
„Mensch, Henk, das ist echt klasse! Warte mal kurz, ich muss noch ein Telefonat führen, dann komme ich sofort wieder!“
In ihrem Überschwang rief Gloria bei Frau von Hall an und sagte ihr ab, danach kehrte sie in Henks Zimmer zurück.
„Wie kommst du darauf, dass Tom dir mit der Farbe raten könnte?“, fragte sie ihn, „das kann ich doch viel besser. Guck doch mal, Frauen haben viel mehr Ahnung von Farbe. Sie schminken sich mit Hingabe und außerdem hab ich jahrelang Häuser verkauft und kenne die schönsten Farbkombinationen!“
Henk kam ins Grübeln. Das verleitete Gloria dazu, noch einen draufzusetzen.
„Tom ist doch obendrein Konkurrenz, sagst du doch selber immer, meinst du, der wird dich gut beraten?“
Damit hatte sie Henk so weit. Er ließ seine Skepsis fahren und meinte: „Na gut.“
Er holte sein Farbensortiment und breitete alles aus. Vor Glorias geistigem Auge erstand das Bild eines Hauses, das sie mal in Spanien gesehen hatte. So ein schönes Terrakotta könnte auch zu Henks Haus gut passen. Sie fing an zu mischen und die Farbe gelang wunderbar.
„Soll ich sie auch auftragen?“, fragte sie Henk.
Da aber verließ ihn sein Vertrauen.
„Nein, um Gottes Willen! Das mach ich lieber selber. Mit deiner Feinmotorik versaust du mir das ganze Haus!“
Dieses Argument musste Gloria gelten lassen. Immerhin hatte er einige Wochen zuvor die Erfahrung gemacht, dass sie nicht mal dazu imstande war, einfache Gegenstände abzuzeichnen. Für das entsprechende Experiment hatte er ihr sogar seine heiligen Faber-Castell-Stifte zur Verfügung gestellt. Nach mehreren Versuchen musste er jedoch einsehen, dass wirklich Hopfen und Malz verloren war. Mit seinem trockenen Humor hatte er gemeint: „Stimmt, deine Zeichenfähigkeit ist echt auf dem Niveau eines Kopffüßlers stehen geblieben“, und seine Stifte wieder weggepackt.
Während er sich ans Pinseln machte, verließ Gloria das Zimmer und setzte sich endlich mal wieder an den Schreibtisch, um für die bevorstehende Prüfung in Scheidungsrecht zu lernen. Allerdings erwies sich das als nicht sehr sinnvoll, denn ihre Gedanken schweiften immer wieder ab zu dem Vorstellungsgespräch am nächsten Tag. Außerdem rief Henk immer wieder, sie solle ihr Urteil über sein nun fertiges Werk abgeben. Nach zwei Stunden gab sie auf.
Als Gloria das Modell sah, war ihr erster Gedanke: Scheiße, das sieht schlimm aus. Sie kämpfte mit sich. Wie sich aus dieser peinlichen Situation befreien? Ihm gestehen, dass ihre Farbwahl wohl doch nicht so genial gewesen war? Die Farbe wieder zu entfernen war auch nicht mehr möglich, überstreichen würde nicht klappen, dafür war die Farbe zu dunkel. Außerdem brauchte sie eine Galgenfrist, bevor sein Zorn auf sie niederprasseln würde. Also sagte sie: „Mmhm, mhm, mhm, schön, schön, schön“, und hoffte darauf, dass Henks Professor einen ausreichend schlechten Geschmack hatte oder farbenblind war.
„Henk, wer das nicht gut findet, ist neidisch oder hat keinen guten Geschmack.“
Es klingelte, Gloria spurtete zur Sprechanlage. Es war Tom.
Der Schock fuhr Gloria in die Glieder. Tom würde sicher nicht so taktvoll sein wie sie, wenn er die Farbwahl an dem Modell sehen würde. Jetzt musste Henks paranoide Vorstellung herhalten, Tom wolle immer seine Ideen abkupfern. Sie rannte zurück in Henks Zimmer.
„Henk, Tom ist zum Spionieren da! Wollen wir das Modell wie üblich in meinem Schlafzimmer verstecken?“
„Nein“, antwortete er, „mal keine Sorge, Tom hat sein Modell schon fertig, der wird daran bestimmt nichts mehr verändern.“
Gloria ging also zurück und drückte den Türöffner. Als Tom oben war, öffnete sie und sprudelte los: „Wir haben an Henks Modell gearbeitet. Und ich, Tom, habe die geniale Farbe ausgesucht“, wobei sie ihn mit einem strengen Blick bedachte und leise hinzufügte: „Kritik unerwünscht.“
Tom ging zu Henk ins Zimmer und betrachtete das Modell, während Gloria nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Wider Erwarten sagte er jedoch nichts, und erleichtert dankte Gloria ihrem inneren Navigator, der sie sicher um dieses Kap geschifft hatte.
Später kam Tom dann in ihr Zimmer. Sie rauchten eine Zigarette zusammen und tranken ein Glas Wein dazu. Aus heiterem Himmel fragte er: „Wie nennt man denn diese tolle Farbe? Kackbraun?“
Gloria machte ihrer Heimat Ehre und verteidigte sich nach bester Harzer Manier mit Angriff.
„Du kommst aus dem Ruhrpott und wie man so hört, lauft ihr da alle in Jogginganzügen rum. Das sagt ja einiges aus über deinen Sinn für Geschmack und Stil. Also kannst du das gar nicht beurteilen. Und wenn du in dieser Hinsicht mal adäquaten Rat brauchst, kannst du dich gerne an mich wenden. Im Übrigen heißt die Farbe Terrakotta.“
Trocken antwortete Tom: „Vielen Dank für das Angebot, aber ich möchte mein Studium gern in der Regelstudienzeit abschließen“, worauf er sie frech angrinste.
Ein Blick auf die Uhr erinnerte Gloria daran, dass es Zeit wurde, sich für ihre Verabredung fertig zu machen. Also komplimentierte sie Tom hinaus und schnappte sich ihren Minirock und die hochhackigen Pumps. Nachdem sie sich in Schale geworfen hatte, steckte sie ihre Haare zu einer kecken Frisur hoch und gab ihrem Gesicht noch etwas Farbe, was ihr da deutlich besser gelang als an Henks Modell. Das Ganze rundete sie ab mit einem Hauch Chanel N° 22.
So gestylt wollte sie sich eben auf den Weg machen, als Tom sie fragte, was sie vorhabe.
„Frauenabend im Schweinehof.“
„Oh, umso besser, können wir mit?“
Der will nur mit, um meine Freundinnen anzubaggern, dachte Gloria und durchforstete ihr Gehirn nach einer passenden Ausrede, ein Prozess, der nur wenige Sekunden in Anspruch nahm und im Ergebnis, Gloria beglückwünschte sich frohlockend zu ihrer Bauernschläue, zu der Bedingung führte: „Okay, wenn ihr mir beweisen könnt, dass ihr Frauen seid, nehme ich euch gerne mit. Schließlich soll es ein Frauenabend werden und kein bunter Abend.“
Allein machte sie sich auf den Weg, setzte sich, wegen des Minirockes, sehr vorsichtig auf ihr Fahrrad, das sie liebevoll „Porsche“ nannte, und radelte zum Schweinehof.
Auf halbem Weg wurde das Treten immer schwieriger, sodass Gloria zu schnaufen begann wie eine Dampflok. Zu Zwecken der Ursachenforschung hielt sie schließlich an. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis sie erkannte, dass nicht etwa ihre durch Zigarettenkonsum angeschlagene Fitness schuld war, sondern einfach nur ein Reifen platt. Hilfesuchend blickte sie sich um. Die Welt ist voller Fahrräder, dachte sie, an irgendeinem wird sich doch wohl eine Luftpumpe ausleihen lassen. Die Welt schien es gut mit ihr zu meinen, denn kaum zehn Meter weiter stand ein Typ, der ebenfalls an einem Fahrrad hantierte. Sie schob „Porsche“ zu ihm hin und sprach ihn an:
„Entschuldigung? Hast du zufällig eine Luftpumpe? Mein Reifen ist platt!“
Er richtete sich auf und Gloria entdeckte, dass es sich um einen ausnehmend gut aussehenden jungen Mann handelte.
„Ja, kein Problem!“ Er reichte ihr die Pumpe, wobei er die Gelegenheit nutzte, Gloria genauer in Augenschein zu nehmen, was wiederum dazu führte, dass er seinen Griff fester um das Werkzeug schloss und fragte: „Welcher ist es denn?“
Gloria fragte sich einen Augenblick lang, ob er sie für zu doof hielt, den Reifen selbst aufzupumpen, oder ob er sich aus Galanterie dazu entschlossen hatte, das für sie zu erledigen. Sie entschied sich für den angenehmeren Gedanken, schenkte ihm ein – wie sie hoffte – reizendes Lächeln und sagte: „Der hintere!“
Im Handumdrehen hatte er das Malheur beseitigt und verstaute die Pumpe wieder in ihrer Halterung.
„So, jetzt muss ich mich aber beeilen“, meinte er, während er eine große Kneifzange aus seinem Rucksack zog und in aller Seelenruhe die Kette an dem Fahrrad, mit dem er beschäftigt gewesen war, durchkniff. Sodann schwang er sich auf den Drahtesel und mit den Worten: „Schau bei Gelegenheit mal nach, ob du ein Loch im Schlauch hast!“, fuhr er davon.
Gloria blickte ihm mit offenem Mund hinterher. Habe ich das richtig gesehen, fragte sie sich. Hat der jetzt vor meinen Augen ein Fahrrad geklaut? Wenn ich das erzähle, das glaubt mir kein Mensch! Kopfschüttelnd setzte sie ihren Weg fort.
An der Bar des Schweinehofes saß Nick und trank Kaffee.
„Na, Nick, so ganz ohne deine Verwandten? Kommt da nicht Einsamkeit auf?“, spöttelte Gloria.
Nick grinste breit: „Abwarten, mal sehen, was der Abend noch bringt.“ Damit wandte er sich wieder seinem Bier zu.
Immer eingedenk des guten Rates von Nick „Willst kein’ Herpes an der Klappe, trink dein Bier nur aus der Flasche“ bestellte sie wieder ein „Flens“ ohne Glas und stellte sich dem Sturm von Fragen ihrer Freundinnen Hannah und Sandra über ihr Jobangebot. Mit viel Kreativität und Fantasie erörterten sie lebhaft, worum es wohl ging und gehen konnte, und Gloria entrüstete sich weitschweifig über die Zustände bei Frau von Hall. Hannah und Sandra teilten ihre Empörung ohne Wenn und Aber und gratulierten Gloria, dass sie so schnell etwas Besseres gefunden hatte.
Unvermittelt unterbrach Gloria das Gespräch. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und sah um sich, um die Quelle dieses unangenehmen Gefühls zu eruieren. Und siehe da, wen entdeckte sie? Den freundlichen Helfer mit der Luftpumpe. Sie beugte sich näher zu Hannah und Sandra und rief, um die laute Musik zu übertönen: „Seht ihr den Punker da drüben?“
Angestrengt blickten beide in die Richtung, die Gloria ihnen mittels diskreter Kopfbewegungen wies, und Hannah seufzte: „Ah, der sieht aber schnucklig aus!“
„So sieht ein Fahrraddieb aus! Ich hab den vorhin beobachtet, wie er ein Fahrrad geknackt hat!“
„So ein Blödsinn“, entrüstete sich Sandra, „der studiert auch Sozialpädagogik und seine Eltern sind Ärzte. Ich glaub nicht, dass der es nötig hat, Fahrräder zu klauen!“
„Was hat das denn damit zu tun? Schau ihn dir doch an! Das ist Rebellion in ihrer reinsten Form, so einer klaut schon allein aus dem Grund, weil er nicht so spießig sein will wie seine Eltern!“
„Also weißt du, mit deiner Menschenkenntnis scheint es ja nicht weit her zu sein!”, rief Hannah, „ich geh am besten mit zu deinem Vorstellungsgespräch, nicht dass du noch auf einen Betrüger reinfällst!“
„Einverstanden!“ Gloria lachte, bis ihr die Tränen kamen, und obwohl der Fahrraddieb sie den ganzen Abend nicht mehr aus den Augen ließ, amüsierte sie sich prächtig, bis es Zeit war, zu gehen und an der Matratze zu horchen.
Gloria konnte halbwegs ausschlafen, denn am kommenden Tag stand nur eine Vorlesung um elf Uhr an, dafür aber nachmittags das Vorstellungsgespräch, und da war es von herausragender Wichtigkeit, möglichst knitterfrei zu erscheinen, ihr potenzieller neuer Chef musste ja nicht gleich auf den ersten Blick sehen, dass sie gesumpft hatte.
Die Vorlesung drehte sich um das Thema Methodisches Arbeiten in der Sozialarbeit aus dem Lernbereich I. Gehalten wurde sie von Professorin Knopf. Frau Knopf sprach so leise, dass man sie schon in der vierten Reihe nicht mehr verstehen konnte. Die Studenten hingegen bekamen regelmäßig einen Punktabzug, wenn sie ihre Referate nicht laut und deutlich vortrugen, und mussten auch in der letzten Reihe noch zu verstehen sein. Wie auch immer, dieser Umstand förderte bei allen Studenten, die keinen Kurs im Lippenlesen absolviert hatten, die Pünktlichkeit, denn man musste sich beeilen, um möglichst einen Platz in den ersten drei Reihen zu bekommen.
Nach ihrem üblichen Schwarzen Frühstück eilte Gloria also in den Hörsaal und ergatterte gerade noch den letzten Platz in der dritten Reihe, indem sie sich erfolgreich gegen eine Studentin aus dem ersten Semester durchsetzte, die diesen Platz für eine Kommilitonin reserviert hatte. Gloria erklärte ihr einfach, dass sie diesen Schein dringend benötige und sich deshalb nicht mit einem schlechteren Platz zufriedengeben könne, zumal sie obendrein im rechten Ohr einen Tinnitus habe.
Allerdings profitierte Gloria nur minimal von ihrer Eroberung, weil sie nämlich in Gedanken die meiste Zeit bei ihrem Vorstellungsgespräch war. Wenn man bedenkt, was Hannah für neun Euro fünfzig die Stunde alles machen muss!, dachte sie, was kommt dann wohl auf mich für dreißig Euro zu? Ihr wurde mulmig. Da hab ich mich ganz schön weit aus dem Fenster gelehnt, nach dem bisschen Studium bin ich vielleicht noch gar nicht kompetent genug! Sie begann sich zu fühlen wie eine Hochstaplerin. Andererseits habe ich ich ja eigentlich schon ganz schön viel Lebenserfahrung, das hilft bestimmt!, tröstete sie sich. Außerdem weiß der Klimm schließlich, dass ich Anfängerin bin, und meine Zeugnisse sind ja nun wirklich in Ordnung.
Als die Vorlesung endlich vorbei war, machte Gloria drei Kreuzzeichen, denn nun hatte sie keine Zeit mehr für quälende Gedanken. Sie musste schleunigst nach Hause und sich für das große Ereignis umziehen. Hannah nahm sie gleich mit.
Da Gloria ihrem neuen Arbeitgeber möglichst perfekt gegenübertreten wollte, hatte sie sich schon am Vortag mehrere Outfits zurechtgelegt, weder zu schick noch zu leger. Hannah hatte eher einen Öko-Geschmack und durfte ihr deshalb lediglich bei der Entscheidung zwischen zwei Alternativen behilflich sein.
Im Ergebnis stand Gloria schließlich in einem hellen Leinenkostüm, bestehend aus Hose und Bluse, vor dem Spiegel. Ihre Füße steckten in weißen Ballerinas. Das Gesicht nur ganz dezent geschminkt, die Haare zu einem Zopf geflochten. Hey, dachte sie, obwohl ich so nervös bin, hab ich das doch gut hingekriegt. Jetzt brauche ich nur noch ein passendes Buch. Aber welches? Der „Chef“ ist ja Psychologe. Also was Psychologisches. Einführung in die Psychologie,Gruppendynamik oder Neurotische Konfliktbearbeitung? Um nicht in Erklärungsnot zu geraten, entschied sie sich für die Einführung in die Psychologie. Dazu konnte sie bestimmt wenigstens irgendwas Kluges sagen, wenn Herr Klimm ihr Fragen in dieser Richtung stellen sollte.
Endlich konnten Gloria und Hannah losfahren, erreichten ihr Ziel aber immer noch eine Viertelstunde zu früh, sodass sie sich in der Kantine des real-Marktes ohne Hektik geeignete Plätze auswählen konnten. Gloria suchte einen Fensterplatz aus und Hannah ließ sich drei Tische hinter ihr nieder.
Um sich die Wartezeit zu vertreiben, prüfte Gloria noch einmal ihre Bewerbungsmappe auf Vollständigkeit. Ihr perfektionistisches Ego hätte einen schweren Schlag erlitten, wenn sie etwas vergessen hätte.
Pünktlich zur vereinbarten Zeit betraten zwei Männer die Lokalität.
Nervosität machte sich in Gloria breit. Nachdem sie bei ihren Freunden so geprahlt hatte, als hätte sie den Job bereits in der Tasche, durfte sie dieses Gespräch auf keinen Fall versemmeln. Sie verlieh ihrer Miene den richtigen Ausdruck zwischen cool und angespannt und sah den beiden entgegen.
„Frau Grothe?“, sprach der eine sie an.
„Ja, richtig.“
Er stellte sich und seinen Begleiter namentlich vor, bevor beide sich zu ihr an den Tisch setzten: „Mein Name ist Klimm und das ist Herr Schmitt, ein Kollege von mir.“
„Ich bin Gloria Grothe, guten Tag.“
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte Herr Klimm.
Glorias trockener Hals sagte „Ja, gerne“, ihre gute Erziehung aber ließ nur die Worte „nein danke“ über ihre Lippen. Irgendwo hatte sie mal gehört, dass es sich nicht schickte, bei Bewerbungsgesprächen auf Getränkeangebote einzugehen.
Herr Schmitt holte also nur für sich und seinen Chef eine Cola.
„Ja, Frau Grothe, erzählen Sie mal ein bisschen von Ihrem Lebenslauf“, begann Herr Klimm.
„Ich habe schon mal meine Unterlagen vorbereitet.“ Gloria schob ihm ihre Bewerbungsmappe hinüber und sah ihm mit offenem Mund dabei zu, wie er sie durchblätterte wie ein Daumenkino.
„Das ist alles Scheiße“, sagte er und fächelte sich mit der Mappe Luft zu.
Völlig entgeistert schluckte Gloria und fragte: „Wieso, die Zensuren sind alle wunderbar, lauter Einsen und Zweien!“
„Zeugnisse und Zensuren sagen gar nichts darüber aus, ob ein Mensch geeignet ist, in einem bestimmten Beruf zu arbeiten“, entgegnete er.
Aha, dachte Gloria. „Also, ich habe eine abgeschlossene Ausbildung als Erzieherin, habe aber in dem Beruf nie gearbeitet. Außerdem war ich längere Zeit im Immobiliengeschäft und kann sehr gut mit Menschen umgehen. Und ich bin sehr ehrgeizig und motiviert und würde sicher mein Bestes geben.“
„Wie geht das denn zusammen, erst Immobilien und jetzt Sozialpädagogik?“, fragte Herr Klimm. Allerdings schien er nicht wirklich eine Antwort zu erwarten, denn er fuhr unmittelbar fort: „Aber wenn Sie im Immobiliengeschäft waren, sind Sie auf jeden Fall tough genug für den Job bei mir. Im Prinzip handelt es sich ja darum, anderen Menschen zu helfen, ihr Leben in den Griff zu kriegen, das traue ich Ihnen durchaus zu. Ich würde also sagen, wir versuchen es miteinander!“
Gloria jubilierte innerlich und setzte zu einer erfreuten Rede des Dankes für das ausgesprochene Vertrauen an, als Klimm einen Wermutstropfen nachschob: „Allerdings gibt es in jedem Beruf Nachteile. In diesem Fall bin ich der Nachteil, ich bin nämlich sehr cholerisch. Glauben Sie, damit kommen Sie zurecht?“
Solange ich dir nicht den Hintern föhnen muss! Um ein Haar hätte Glorias skurriler Sinn für Humor sie zu einem schallenden Gelächter verleitet, sie kratzte aber grade noch die Kurve und sagte sittsam: „Na ja, jeder hat seine Eigenheiten, daran soll es nicht scheitern!“
„Gut, dann kommen Sie bitte morgen um 15 Uhr zum Jugendamt, da treffen wir uns auf dem Parkplatz und Sie lernen Ihren ersten Fall kennen.“
Sie verließen zu dritt die Kantine und verabschiedeten sich mit Handschlag. Auf dem Parkplatz hielt Herr Klimm Gloria noch einmal zurück und sagte ganz cool: „Ach, eins noch, Frau Grothe. Es muss keiner wissen, dass Sie noch Studentin sind. Wir sehen uns morgen.“
Etwas verwirrt setzte sich Gloria in ihr Auto und wartete auf Hannah. Warum hat er das gesagt?, sinnierte sie. Soll ich qualifizierter wirken als ich bin? Warum wohl? Ha, bestimmt, weil er für eine Fachkraft mehr Honorar verlangen kann, ist doch klar. So ein Fuchs! Hoffentlich ist die Sache nicht doch total unseriös, nicht dass wir am Ende alle im Knast landen. Zum Beispiel, weil jemand herausfindet, dass ich noch Studentin bin und erst im dritten Semester, wenn ich wenigstens schon mein Vordiplom hätte …
Ihr Gedankenfluss wurde unterbrochen durch Hannah, die jetzt zu ihr ins Auto stieg.
„Und, wie war’s? Wieso hat der sich mit deiner Bewerbungsmappe Luft zugefächelt? Irgendwie ein komischer Typ.“
„Das kannst du laut sagen. Ich bin schon ein bisschen verunsichert. Der hat meine Mappe nicht mal richtig angeschaut und meinte, das wäre alles Scheiße, und Noten und Zeugnisse würden eh nichts zählen. Aber eingestellt hat er mich trotzdem.“
„Hey, super! Herzlichen Glückwunsch! Ich wusste, dass du das packst!“ Ehrliche Freude ließ Hannahs Gesicht strahlen.
„Aber gerade, als er schon im Weggehen war, hat er noch gesagt, ich soll keinem erzählen, dass ich noch Studentin bin. Garantiert verlangt er beim Jugendamt für mich das Honorar für eine Fachleistungsstunde.“
„Kann schon sein“, meinte Hannah.
„Na ja, für mich ist das klar, dass er mich als hochqualifiziertes Personal teuer verkaufen will, was soll er sonst für Gründe haben?“
Je intensiver Gloria diesen Gedanken dachte, desto plausibler erschien er ihr.
„Schade, dass ich jetzt noch zu tun habe, ich hätte dich gern auf ein Glas Sekt eingeladen. Aber das holen wir nach.“
Sie brachte Hannah nach Hause, bedankte sich herzlich für ihre Unterstützung und verabschiedete sich mit den Worten: „Ach übrigens, lebt dein Mitbewohner noch? Denk dran, auch Fleischfresser verdienen eine Chance!“ Dann strebte sie lachend ihrem Heim zu.
„Da bist du ja endlich, du hohle Nuss!“, wurde sie empfangen.
Oh weh, dachte sie, der Professor ist doch nicht farbenblind.
Tapfer stellte sie sich Henks Zorn und kehrte die Spötterin hervor: „Oh, es ist doch immer wieder schön, so nett und freundlich begrüßt zu werden, wenn man am Abend geschafft nach Hause kommt!“ In aller Unschuld fragte sie dann: „Was ist denn los, Henk?“
Henk brüllte los: „Du hast mein Leben ruiniert! Ich hätte eine glatte Eins für mein Modell bekommen. Aber mein Prof meint, das sei die hässlichste Farbe, die er je gesehen hat. Und deswegen hat er mir nur eine Zwei gegeben!“
Scham beschlich Gloria, es tat ihr wirklich von Herzen leid, dass sie Henk seine Eins verpatzt hatte. Aber um kein Geld der Welt hätte sie sich das anmerken lassen. Im Gegenteil.
„Sieh mal, Henk, in jedem Fachbereich gibt es Professoren, die trotz aller Titel keine Ahnung haben. Du hast die Zwei nicht wegen mir bekommen, sondern weil dein Prof keine Ahnung von Farben hat“, verteidigte sie ihre Ehre.
Henk hatte kein Ohr für derlei vernünftige Betrachtungen, er fuhr fort, sie mit seinen wütenden Blicken zu durchbohren, und um ihn zu beruhigen, musste Gloria wohl Buße tun.
„Wie wäre es, wenn wir uns mit einem Glas Wein ins Wohnzimmer setzen? Wenn du mich schon beschimpfst, dann wenigstens mit Stil. Was hältst du davon?“
Ohne seine Antwort abzuwarten, ging Gloria zwei Gläser holen und schenkte einen schönen deutschen Rotwein ein.
„Ach, Henk, sieh es doch mal so. Wenn du eine Eins bekommen hättest, hättest du ja gar keinen Spielraum nach oben mehr. Willst du jetzt schon im Zenit deiner Leistungen stehen?“, startete sie einen neuen Versuch, die Zornfalten auf seiner Stirn zu glätten.
„Na, du hast gut reden, hohle Nuss!“, brummte Henk, schnappte sich die Tageszeitung und schlug sie Gloria auf den Kopf. Das war Strafe genug, durch den Schlag kam Gloria wieder zu Verstand.
Wieso bin ich denn die hohle Nuss, dachte sie, er ist doch mit dem Modell losgezogen, dazu hab ich ihn ja schließlich nicht gezwungen, er hätte ja selbst auch sehen können, dass das unmöglich aussieht, also ist er doch die hohle Nuss. Ich hätte das überpinselt, notfalls bis früh um fünf. Und Tom hätte ja auch was sagen können, also ich würde von einem Kumpel schon erwarten, dass er ehrlich mit mir ist, dachte sie. Armer Henk, mit ihm streiten bringt jetzt auch nichts.
Sie versuchte es also mit Ablenken und begann, ihm von ihrem Tag zu erzählen.
„Du hast den Job also tatsächlich bekommen? Das wundert mich, für eine Sozialarbeiterin siehst du reichlich tussig aus mit deinen schicken Klamotten. Eigentlich passt du eher in eine Parfümerie!“, stichelte Henk, nur halb versöhnt.
„Ey, meine Sachen sehen nicht tussig aus, sondern elegant, und sie waren sehr kostspielig! Im Übrigen kommt es in unserem Job auf das Können an und nicht auf die Klamotten“, konterte Gloria.
„Ja, aber trotzdem … Sind Sozialpädagogen nicht immer eher so Ökotypen mit ner linken Einstellung? Wieso bist du nicht bei den Immobilien geblieben?“, hakte Henk nun nach.
Gloria erwog ihre Worte gründlich, bevor sie ihre Antwort gab, und weil sie Henk trotz allem mochte und ihm seine kleine Rache durchaus gönnte, fand sie, er habe eine ehrliche Antwort verdient. Und eine, die für ihn leicht verständlich sein sollte.
„Weißt du, Henk, Menschen unterscheiden sich von Häusern dadurch, dass sie zwei Fundamente haben, eine Mutter und einen Vater, und man wird ja von beiden geprägt. Mein Vater war im Betriebsrat einer großen Firma. Von ihm habe ich von klein auf gelernt, mich zu engagieren. Ich weiß noch, wie wir zusammen Plakate geklebt haben und auf Demos gegangen sind. Da habe ich gelernt, mich für die Belange anderer einzusetzen, die vielleicht nicht stark genug sind, sich allein darum zu kümmern. Die Familie meiner spanischen Mutter treibt seit Generationen Handel und legt von daher sehr viel Wert auf gute Kleidung. Und ich bin die Brücke und weißt du, auch in Kostüm und Hackenschuhen kann ich eine intelligente und sozial engagierte Frau sein. Außerdem, wenn ich mich jetzt in abgefuckte Jeans und Ökolatschen schmeißen würde, wäre ich nicht mehr authentisch, sondern würde in eine Rolle schlüpfen, um die Klischees anderer Leute zu bedienen. Und meine Uroma war sogar eine Gräfin, daher meine Vorliebe für Eleganz!“
„Du bist also sozusagen eine rote Gräfin!“, mokierte sich Henk.
„Nee, von Adelstiteln halte ich gar nichts, für mich sind alle Menschen gleich, keiner steht über mir und keiner steht unter mir.”
Henk sah aus, als könne er mit dieser Antwort etwas anfangen, jedenfalls sagte er nichts weiter dazu und den Rest des Abends verbrachten sie thematisch in seichteren Gewässern, bis jeder schließlich in seinem Bett vor Anker ging.
Glorias grüblerische Seite hatte keine Zeit mehr, sich zu Wort zu melden und sie mit ängstlichen Fragen zu ihren morgigen Aufgaben wach zu halten. Der heutige Tag und drei Gläser Wein hatten sie nämlich so geplättet, dass sie sofort einschlief.
2
Der Vormittag an der Uni hätte durchaus spannend sein können, wäre Gloria nur in der Lage gewesen, sich darauf zu konzentrieren, anstatt sich auf den Nachmittag einzustimmen.
Auf dem Weg zum Jugendamt holte „ihr Grübler“ nach, was er am Abend zuvor versäumt hatte. Was wird das für eine Familie sein, die ich da betreuen werde?, fragte sie sich. Wird sie die Hilfe überhaupt annehmen wollen oder wird sie mir eher ablehnend gegenüberstehen? Wird das Jugendamt mit mir einverstanden sein? Was kommt da überhaupt auf mich zu? Und wenn ich es gar nicht schaffe, wenn ich total versage?
Sie riss sich zusammen, niemand sollte merken, wie nervös sie war. Eine Drehung nach rechts am Lautstärkeregler des Autoradios, und mit der Lautstärke nahm der beruhigende Effekt der Musik zu, sodass sie wieder zielgerichtet darüber nachdenken konnte, welche Form der Präsentation ihrer Person den größten Erfolg versprach. Ich will unter allen Umständen so professionell auftreten, wie Herr Klimm es von mir erwartet, dachte sie. Und wovor sollte ich schließlich Angst haben? Ich habe solange Immobilien verkauft, da habe ich es ja auch immer geschafft, gelassen und selbstsicher aufzutreten, egal, wie mir zumute war.
Auf dem Parkplatz vor dem Jugendamt wartete Herr Klimm schon auf sie und sie gingen gemeinsam in das Amtsgebäude. Es handelte sich um eine wunderschöne alte Jugendstilvilla, das war Gloria sofort aufgefallen. Eigentlich viel zu schade für einen Behördensumpf.
Im Büro stellte Herr Klimm sie der Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes, Frau Lübke, vor: „Das ist meine neue Mitarbeiterin, Frau Grothe. Sie hat viel Erfahrung in der Jugendhilfe und wird die Familie übernehmen.“
Klotzen statt kleckern, dachte Gloria, wenn das mal gut geht.
Mit einem kurzen Klopfen betrat eine Frau den Raum und es bedurfte keines Abschlusses im Fach „Menschenkenntnis auf den ersten Blick“, um zu erkennen, dass es sich nur um die Klientin handeln konnte. Gloria schätzte ihr Alter auf irgendetwas zwischen fünfzig und sechzig und ihr Gewicht auf zirka 120 Kilo bei einer Größe um die Einssechzig. Ihr schulterlanges Haar war bis auf Ohrhöhe grau und lief in schwarzen Spitzen aus, was drei Interpretationsmöglichkeiten zuließ: Entweder hatte sie sich entschlossen, in Würde zu altern, oder sie fand es schick oder sie hatte schlicht kein Geld zum Nachfärben. Dann wurde Glorias Blick magisch von den Augen der Frau angezogen. Sie saßen erstaunlich groß und blau in einem ziemlich faltigen Gesicht und waren dick umrandet mit blauem Lidschatten, der ungefähr so deplatziert wirkte wie das Terrakotta auf Henks Modell. Ihr mächtiger Körper war eingehüllt in ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Hose.
„Guten Tag, Frau Fricke“, begrüßte Frau Lübke die Dame, „ich darf Ihnen Frau Grothe vorstellen, die sich um Sie kümmern wird. Sie ist eine Mitarbeiterin von Herrn Klimm, mit dem wir schon lange erfolgreich zusammenarbeiten. Ich schlage vor, wir gehen in den Konferenzraum, da ist mehr Platz, hier wird es doch etwas eng.“
Beim Umzug dorthin konnte Gloria sehen, dass Frau Frickes Füße in billigen Badelatschen aus Plastik steckten. Einen schrecklichen Augenblick lang fragte sich Gloria, ob sie vielleicht in ihrem schwarzen Business-Kostüm total overdressed war. Dann rief sie sich in Erinnerung, dass sie ja nicht die Klientin war, sondern die Helferin, und nur in adäquater Kleidung fühlte sie sich sicher genug, um sich in das Unternehmen „Trockenlegung deutscher Familiensümpfe“ zu stürzen.
Frau Lübke erklärte, dass die Familie schon im Kontakt mit dem Jugendamt sei, seit die Kinder von Frau Fricke klein gewesen waren. Jetzt stehe die Klientin kurz vor einer Zwangsräumung und habe noch keine neue Wohnung in Aussicht. Im Vorfeld habe die ARGE in Absprache mit Frau Fricke die Miete gemindert, weil die Wohnung an verschiedenen Stellen Schimmel aufwies. Der Vermieter habe jedoch nicht, wie beabsichtigt, diesem Missstand abgeholfen, sondern kurzerhand die Räumung der Wohnung veranlasst. Über die ARGE habe das Jugendamt von der Zwangsräumung erfahren und daraufhin der Familie zur Auflage gemacht, die Hilfe einer Spfh in Anspruch zu nehmen.
Mit im Haushalt lebten zwei volljährige Kinder von Frau Fricke, die ebenfalls von der ARGE unterhalten würden. Allerdings habe die ARGE deren Geldleistungen um hundert Prozent gekürzt, weil die beiden ihren Auflagen nicht nachgekommen seien. Zudem habe Frau Fricke ein sehr großes Herz und füttere zusätzlich Bekannte durch, die aus irgendeinem Grund auf der Straße gelandet seien. All dies bewältige sie mithilfe der Leistungen der ARGE, was dazu führe, dass chronisch kein Geld vorhanden sei.
Weiter lebe ihr Enkelkind Astrid bei ihr, die Tochter einer ihrer erwachsenen Töchter, die bereits ausgezogen sei. Die Mutter dieses Kindes habe mehrere Partnerschaften hinter sich, in denen es auch zu Gewalttätigkeiten gekommen sei, was zu einer psychischen Erkrankung geführt habe. In deren Rahmen habe die Kindesmutter begonnen, zu trinken und Drogen zu nehmen. Sie könne dem Kind keinerlei Struktur bieten und ihm kein Vorbild durch einen adäquaten Lebenswandel sein. Astrid sei sieben Jahre alt und gehe in die erste Klasse. Sie sei ein ängstliches Kind, das noch Windeln trage und zu Hause einen Schnuller benutze.
Im Hilfeplan sei als Ziel definiert worden, dass Gloria der Familie helfen solle, ihre Probleme zu bewältigen. Das heiße, eine neue Wohnung zu suchen, die erwachsenen Kinder zu verselbstständigen und Frau Fricke bei der Erziehung von Astrid zu helfen.
Während der Ausführungen von Frau Lübke beobachtete Gloria immer wieder Frau Fricke, um zu sehen, wie diese das Gehörte aufnahm. Immerhin konnte es ja wohl ganz schön erschreckend sein, die eigene beschissene Lage so komprimiert dokumentiert zu bekommen. Frau Fricke nahm es jedoch gelassen und bestätigte durch häufiges Kopfnicken die Richtigkeit der Angaben. Sie schien mit ihrer Situation weit weniger Probleme zu haben als ihr Umfeld.
Als Frau Lübke geendet hatte, ruhten alle Blicke erwartungsvoll auf Gloria. Sie wandte sich also an Frau Fricke: „Frau Fricke, wir haben ja jetzt gehört, dass Sie eine Menge Probleme haben. Ich werde mein Bestes tun, Ihnen in Ihrer Situation beizustehen. Auch bei der Erziehung Ihrer Enkelin und bei Behördengängen. Was wünschen Sie sich denn, wie ich Ihnen helfen kann?“
Gloria wusste sehr wohl, dass diese Frage nur rhetorischen Wert hatte, wollte aber Frau Fricke das Gefühl geben, eine gewisse Kontrolle über die Situation zu haben. Eine Zusammenarbeit würde sicher besser funktionieren, wenn Frau Fricke nicht die Angst haben musste, jemanden ins Haus zu bekommen, der sie kontrollierte, sondern jemanden, der ihr helfen wollte und ihr dabei ein Mitbestimmungsrecht einräumte.
„Wenn Sie mir mit der Wohnung helfen, wäre das schon eine große Hilfe“, sagte Frau Fricke.
Gloria gab ihr ihre Telefonnummer und ließ sich von Frau Fricke deren Adresse und Telefonnummer geben. Als sie alles in ihr schlaues Buch notiert hatte, fügte sie hinzu:
„Da Ihnen ja eine Zwangsräumung bevorsteht, sollten wir keine Zeit verlieren. Wie wäre es, wenn wir gleich für morgen einen Termin vereinbaren?“
Gloria hatte am kommenden Tag mehrere Vorlesungen zu besuchen, also bot sie Frau Fricke an, um siebzehn Uhr zu ihr zu kommen.
Ein breites Grinsen und ein Kopfnicken versicherten ihr, dass Gloria den Einstieg ins Berufsleben geschafft hatte.
Damit war die erste Runde beendet. Alle erhoben und verabschiedeten sich und Gloria ging mit Herrn Klimm nach draußen.
„Haben Sie noch etwas Zeit?“, fragte er, „ich würde Ihnen gern noch unser Büro zeigen.“
„Oh ja, sehr gerne!“, antwortete Gloria.
Sie fuhr hinter ihm her und nach etwa fünf Minuten parkten sie vor einem lang gestreckten Gebäude, das Gloria an eine Fabrik erinnerte. Bei uns liegen Sie richtig! Bestattungsinstitut Börner stand in großen Lettern auf einem Schild an der Hauswand.
Wo bin ich denn jetzt gelandet, fragte sich Gloria amüsiert, arbeiten die zusammen? Ist das die Endstation, wenn ich bei den Leuten versage?
Mit dem Hinweis, das Büro sei oben, führte Herr Klimm sie in die erste Etage. Das Büro umfasste zwei Räume, eine Küche und ein Badezimmer. Der größere der beiden Räume diente nach Angaben ihres Chefs als Besprechungszimmer. In der Mitte stand ein großer Tisch mit annähernd zwanzig Stühlen darum herum. Im kleineren Zimmer ein Chefsessel hinter einem schäbigen, antiken Schreibtisch, auf dem ein alter Computer thronte. Vor dem Schreibtisch fand sich ein weiterer Stuhl, auf dem Gloria Platz zu nehmen aufgefordert wurde.
Na, hier wird ja nicht grade mit Luxus geprotzt, dachte sie, während sie gleichzeitig hoffte, dass die Sitzgelegenheit erst unter dem nächsten Besucher zusammenbrechen möge.
Herr Klimm kramte mit den Worten „Wo is er denn, wo is er denn?“ einen Schlüssel aus einer der Schubladen und gab ihn Gloria. „Das ist der Büroschlüssel. Damit können Sie jederzeit hierher kommen und selbstverständlich alle Räume nutzen, für Elterngespräche oder Gespräche mit Jugendlichen, was halt so anfällt.“ Darauf zückte er Zettel und Stift, bat sie um ihre Adresse und Handynummer und schob ihr eine seiner Visitenkarten über den Tisch. „Ich schicke Ihnen in den nächsten Tagen Ihren Arbeitsvertrag und Ihre eigenen Visitenkarten zu. Das nächste Team-Treffen ist in einer Woche, da lernen Sie die anderen Kollegen kennen. Aber ich werde mich bestimmt vorher noch mal bei Ihnen melden, dann bekommen Sie eine weitere Familie zugeteilt. Wenn Sie Fragen haben, rufen Sie einfach an. Bis dahin erst mal viel Glück bei der Arbeit.“
„Ja, auf gute Zusammenarbeit“, erwiderte Gloria und erhob sich. Mit einem Händedruck trennten sie sich und Gloria fuhr nach Hause.
Aus dem Briefkasten fischte sie einen Gemeindebrief, den Gloria auf dem Weg nach oben durchblätterte. Sie stieß auf eine Werbung des Pastors, die da lautete: Gehen Sie in den Schützenverein! Lernen Sie schießen und treffen Sie Freunde! Erheitert dachte Gloria: Das kann nur für Henk sein! Und tatsächlich. Als sie das Heft zuklappte, entdeckte sie auf der Rückseite Henks Adresse und als Absender eine Gemeinde aus dem Emsland.
Kein Wunder, dass die Mitgliederzahlen in der katholischen Kirche rückläufig sind, wenn die sich gegenseitig erschießen, dachte sie, als Laute einer heftigen Diskussion an ihr Ohr drangen. Sie schloss die Wohnungstür auf, trat ein, hängte ihren Mantel an die Garderobe und rief: „Henk? Haben wir Besuch?“
Keine Antwort. Stille aus dem Wohnzimmer. Neugierig ging Gloria hinein und ertappte Henk bei seinem Anti-Stress-Ritual. Er saß auf der Couch. Seine Haare standen wild in alle Richtungen ab, er trug die obligatorische Cordhose mit einem schwarzen Hemd und darüber ein schwarzes Sakko. An seinem Kragen prangte weiß ein „Beffchen“, das er aus einem Papiertaschentuch gebastelt haben musste. Befremdlicherweise standen seine riesigen Füße unbekleidet auf dem Teppich. Die Erklärung dafür erschloss sich Gloria schon in der nächsten Sekunde. Er hatte seine Socken über die Hände gezogen und in seinen Augen glänzten die Vorboten des Wahnsinns. Da dies nicht das erste Mal war, dass Gloria eine solche Szene beobachtete, wusste sie, dass die linke Socke „Wölkchen“ hieß und die rechte „Flocke“. Wölkchen und Flocke hatten ganz unterschiedliche Charaktere. Wölkchen war eher sanftmütig, liebevoll und verständnisvoll und gab Henk die gleichen Ratschläge wie Gloria. Wölkchen und sie waren sozusagen oft einer Meinung. Flocke hingegen verkörperte eine strenge, gehässige Persönlichkeit mit einem fiesen Lachen, die Henk immer schlecht beriet. Naturgemäß waren Wölkchen und Flocke nicht gut aufeinander zu sprechen. Immerhin ließen sie sich gegenseitig ausreden, Henk war Gott sei Dank kein Bauchredner.
Da er ganz offensichtlich völlig überfordert war mit der Situation, eilte Gloria ihm zu Hilfe: „Henk, redest du wieder mit deinen Strümpfen?“
Er: „Nein, das sind Wölkchen und Flocke, meine besten Freunde, die kennst du doch!“
„Dann hör doch auf den Rat deines Pastors und geh in den Schützenverein!“
„Wieso?“, fragte er.
Gloria reichte ihm das Gemeindeblatt und gemeinsam mit Wölkchen und Flocke forschte er darin nach dem Grund ihres Rates. Schließlich rollte er das Heftchen zusammen und schlug ihr damit auf den Arm. „Hohle Nuss, du.“
„He“, rief Gloria, „lieber eine hohle Nuss als verrückt und gewalttätig!“
Spielerisch griff Henk sie an und versuchte ihr Wölkchen und Flocke unter die Nase zu reiben. Bevor das in eine ernste Klopperei ausarten konnte, rief Gloria: „Henk, hör auf, pack deine fiesen Socken weg, ich krieg sonst Asthma! Mit deinem Blödsinn verpassen wir jetzt die intellektuellste aller Serien!“
„Stimmt“, Henk hielt inne, „Zeit für die Simpsons!“
3
Am nächsten Tag stürzte sich Gloria mit Feuereifer in ihre neue Aufgabe. Schließlich wollte sie ihr Geld ja auch ehrlich verdienen. Zwischen den Vorlesungen setzte sie sich mit einer Zeitung in die Cafeteria und studierte den Wohnungsmarkt.
„Na, bist du zur Vernunft gekommen und suchst dir doch eine eigene Wohnung? Ich hab doch gleich gesagt, dieser Architekt ist unsympathisch!“
„Oh, hi, Hannah! Nein, Henk ist schon okay, der hat zwar seine kleinen Macken, aber wer hat die nicht? Nein, du weißt doch, der neue Job! Die Familie braucht eine Wohnung!“
Hannah bestürmte Gloria mit Fragen. „Ja, erzähl doch mal! Wie ist denn deine Klientin?“
Ha, dachte Gloria, jetzt will sie wissen, wie Frau Fricke aussieht, ob sie attraktiv ist, jung oder schon älter, ob sie einen Typ hat, wie viele Kinder sie hat, wie alt die sind, und all die Sachen, die Frauen immer wissen wollen. Sie verspürte nicht die leiseste Lust, Hannahs weibliche Neugier zu befriedigen.
„Hannah! Du weißt doch, die Schweigepflicht! Ich muss jetzt auch los, meine Vorlesung fängt gleich an! Ich hab jetzt eine Vorlesung aus dem Lernbereich III: Nonverbale Kommunikation. Das wird bestimmt interessant!“
„Warte, da gehe ich doch auch hin“, rief Hannah hinter ihr her.
Verdammt, dachte Gloria angesichts des brechend vollen Hörsaals, war ja irgendwie klar, dass wir nicht die Einzigen sind, jetzt müssen wir wieder auf dem Boden sitzen!
„Glück gehabt“, raunte sie Hannah zu, „bei Professor Deven könnten wir jetzt gleich wieder gehen!“
Viele Professoren hatten eine Beschränkung der Teilnehmerzahlen eingeführt, um genau das, nämlich auf dem Boden sitzende Studenten, zu vermeiden. Professor Merkel war einer der wenigen, die das noch nicht so eng sahen, und so kamen Gloria und Hannah in den Genuss, dazulernen zu dürfen.
Wie nonverbal und dennoch packend Kommunikation sein kann, erfuhr Gloria kaum eine Viertelstunde nach Beginn der Veranstaltung. Da nämlich lief ihr ein so heftiger Schauer über den Rücken, dass sie sich wie ferngesteuert umdrehte und ihr suchender Blick auf ein Paar dunkelblaue Augen traf, die sie unverwandt ansahen. Glorias Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sie erkannte, in welches Gesicht die beiden Seen gehörten. Mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich ab.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte sie, der Fahrraddieb. Der studiert also tatsächlich hier.
Sie stupste Hannah an: „Guck mal da drüben! Ich hab mir zwar gedacht, dass wir den noch mal wiedersehen, aber eher als Klienten, wenn wir mal bei der Bewährungshilfe arbeiten, oder als Sozialarbeiter im Knast.“
Vorwurfsvolle Blicke aus mehreren Augenpaaren zwangen Hannah und Gloria zur Unterdrückung des haltlosen Gekichers, das von ihnen Besitz ergriffen hatte. Mit erheblichem Energieaufwand gelang es Gloria, das impertinente Starren des jungen Mannes zu vergessen und dem Unterricht zu folgen. Sie fand ihn trotzdem sympathisch.
Der Vormittag ging recht interessant weiter. Auch die beiden nächsten Vorlesungen, eine über das Leiten und Beraten von Gruppen, die andere über Diagnostik in der Jugendhilfe, fesselten Glorias Aufmerksamkeit. Immerhin hatten sie einen Bezug zu ihrer neuen beruflichen Realität. Da war es nicht weiter schlimm, dass sie mit ihr völlig unbekannten Kommilitonen zusammensaß.
In der Mittagspause besorgte sie sich ein Käsebrötchen gegen den Hunger und ein Snickers für den Blutzuckerspiegel und die gute Laune. Draußen schien die Sonne und weil sie ihr Gesicht für viele Wochen hinter Wolken hatte verstecken müssen, immerhin war es Anfang November, beschloss Gloria, sich auf eine Bank vor dem Gebäude zu setzen. Fest in ihren Mantel gehüllt an ihrem Mittagessen knabbernd beobachtete sie das Treiben. Eine Gruppe junger Männer geriet in ihr Blickfeld, unter ihnen der Fahrraddieb. Er sah Gloria, stupste seine Nachbarn an und sagte etwas zu ihnen, wobei er mit dem Finger auf Gloria zeigte.
Gar nicht auffällig!, dachte die, der ist heute lästig wie ein Stein im Schuh. Erst starrt er mich im Hörsaal an und jetzt macht er sich über mich lustig!
„Ey, is was?“, fragte sie in den Pulk Kerle hinein, die alle grinsend zu ihr herabschauten, als sie ganz nah an ihr vorbeigingen.
Einer feixte: „Nö!“
„Dann kuckt, dass das so bleibt!“, zischte Gloria, worauf sie sich laut lachend entfernten.
Blödmänner!, dachte Gloria, schlug die Zeitung auf und rief eine Nummer an, unter der eine Wohnung angeboten wurde. Sie hatte Glück und konnte für denselben Tag um achtzehn Uhr einen Besichtigungstermin vereinbaren.
Kaum war die letzte Vorlesung vorbei, lief Gloria zu ihrem Auto und brauste voller Spannung zu dem Termin mit der Familie Fricke.
Meine Güte, dachte Gloria vor dem heruntergekommenen Gebäude. Aber klar, sozialer Brennpunkt, was hast du erwartet?
An der Fassade bröckelte die Farbe, die Fensterlaibungen waren stark beschädigt, das Glas in der Haustür hatte einen Sprung. Die Fenster waren schmutzig, statt Gardinen hingen ausgediente Fußballfahnen dahinter.
Angesichts der Klingel war Gloria versucht, in ihrer Handtasche nach einem Gummihandschuh zu suchen. Der Klingelschalter war halb aus der Wand gerissen, die Drähte lagen frei und sie sah sich schon durch einen Stromschlag niedergestreckt. Tief durchatmend nahm sie all ihren Mut zusammen und drückte vorsichtig auf den Knopf. Von drinnen antwortete ein dumpfes Bellen, das ebenso aus der Kehle eines großen Hundes wie eines alten hustenden Mannes kommen konnte. Die Tür wurde geöffnet und im Eingang stand Frau Fricke mit einem Geschöpf an ihrer Seite, das Gloria erneut ins Grübeln brachte: War das ein kleines Pony oder ein Hund? Der Sabber, der dem Wesen aus dem Maul bis auf den Boden hing, klärte sie aber darüber auf, dass es sich eindeutig um einen Hund handelte, und sie betete, dass er ihr und ihrem teuren Kostüm nicht zu nahe kommen möge.
„Guten Tag, Frau Fricke!“
„Tag Frau Grothe, kommen Sie rein!“
Beim ersten Schritt ins Innere schlug ihr schon der Geruch von Schimmel entgegen. Gloria sah sich um und schlagartig war ihr klar, mit welcher Dringlichkeit die Familie ausziehen sollte. Die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden, weil der Schimmel sie gleichsam abgesprengt hatte. Die Rollos waren heruntergelassen, was den gammligen Eindruck noch verstärkte. Die Luft war abgestanden und muffte nach einer Mischung aus Schweiß und Zigarettenrauch, in die sich noch der Schimmelgestank mischte.
Im Wohnzimmer brüllte der Fernseher die Dialoge einer Unterschichtensendung in den Raum. Ein ausladender alter deutscher Eichenschrank hatte seine Türen halb aus den Angeln verloren und gab ungeniert den Blick auf seinen Inhalt frei. Die Schubladen lagen wegen völliger Überfüllung im Krieg mit ihren Schienen. Von wegen deutsche Eiche kriegt man nicht kaputt, schoss Gloria in Gedanken einen Giftpfeil auf ihre Großmutter ab. Weiter war ein Computer vorhanden, der zwar einen angemessenen Platz auf einem Schreibtisch erhalten hatte, aber aussah, als müsse er aufgrund seines frühen Fertigungsdatums mit einer Handkurbel betrieben werden.
Die Familie saß versammelt auf einem alten, verschlissenen Eck-Sofa und im Halbdunkel konnte Gloria vier Personen ausmachen, plus Frau Fricke, die sich direkt dazugesellt hatte. Drei davon, zwei Frauen und ein Mann, waren mit einer solchen Leibesfülle gesegnet, dass Gloria anerkennend die Qualität deutscher Möbel bedachte. Eingeklemmt dazwischen saß ein junger, sogar ziemlich gut aussehender Mann. Das Bild ließ Gloria an einen Schwarm Kugelfische denken, zwischen den sich ein Hering verirrt hatte. Der dünnere der beiden Männer war nur mit Schwimmshorts bekleidet, der dickere mit einer Feinripp-Unterhose mit Bein. Eine der Frauen trug Hotpants aus Baumwollstretch und einen BH, der lediglich der Verhüllung dienen konnte, denn einen solchen Busen konnte nichts halten. Die andere, die sich als Frau Frickes Schwiegertochter erwies, steckte in Jogginghosen, kombiniert mit einem bauchfreien T-Shirt. Allerdings hätte auch ein XXL-T-Shirt keine Chance gehabt, ihre Mitte zu bedecken.
Ratlos blickte sich Gloria um, wo sie sich hinsetzen konnte. Auf der Couch war ja kein Millimeter Platz mehr.
„Wo könnte ich mich denn hinsetzen?“, fragte sie.
Alle schauten den Dünnen an und einer sagte: „Karsten, hol doch der Frau einen Hocker!“
Erstaunlich behände sprang der Angesprochene auf, verschwand und kam mit einem kleinen Kinderhocker zurück, der wohl Astrid gehörte. Gloria bedankte sich höflich und nahm Platz.
Oh, unbequem, dachte sie, aber wenn einer von denen mit mir den Platz tauscht, wird Astrid um ihre Sitzgelegenheit Tränen vergießen.
Sie stellte sich vor, und der Reihe nach folgten sie ihrem Beispiel: Es gab Beate, die jüngste Tochter von Frau Fricke, die seit vier Monaten mit Karsten, dem Dünnen, verheiratet war. Dann Manni, mittleres Kind und einziger Sohn von Frau Fricke, seit einem Monat verheiratet mit Jenny, der anderen dicken Frau. Frau Fricke erklärte, dass ihre älteste Tochter Klaudia, die Mutter von Astrid, ausgezogen sei und bei Matze lebe, der allerdings nicht der Vater von Astrid sei, mit dem habe sie nichts mehr zu tun.
„Aha“, sagte Gloria, „und Sie leben alle hier zusammen, mit der kleinen Astrid und dem Hund?“ Auf das allgemeine bestätigende Kopfnicken hin fuhr sie fort: „Also, das größte Problem in Ihrer Familie ist ja, dass Ihnen gekündigt wurde und sie bald auf der Straße sitzen. Insofern habe ich eine gute Nachricht. Wir könnten gleich starten und eine Wohnung zehn Minuten von hier besichtigen.“
Keine Reaktion. Verdutzt fragte sich Gloria, warum die Nachricht für sie selbst offensichtlich erfreulicher war als für die Familie. Hatten sie erwartet, dass Gloria ihnen mir nichts, dir nichts eine Wohnung servieren würde? Waren sie vielleicht überfordert, weil Gloria ein solches Tempo vorlegte? Oder konnten sie sich erst später freuen, weil sie überrascht waren, dass etwas in ihrem Leben reibungslos funktionieren sollte?
„Wie finden Sie das?“, fragte sie verunsichert.
„Erst mal haben, dann freuen!“, erklärte Manni gleichmütig.
Auch eine Einstellung, dachte Gloria, sie haben sicher Gründe für diesen recht verhaltenen Optimismus.
„Wollen wir zu Fuß gehen?“, fragte sie.
Die Antwort war abschlägig, also mit dem Auto. Im Stillen hoffte Gloria, dass sie sich noch etwas anziehen würden. Tatsächlich zogen wenigstens die fast Nackten sich Jogging-Hosen und T-Shirts über.
„Hat noch jemand außer mir ein Auto?“, fragte Gloria. Auch darauf reagierten alle mit einem Kopfschütteln und ihr wurde Himmelangst um ihren schönen alten Benz. Der hatte schon zweihunderttausend Kilometer auf dem Buckel und in seinen zwanzig Jahren vieles erlebt. Frau Fricke stieg vorne ein und mit einem gequälten Quietschen meldete sich der rechte vordere Stoßdämpfer. Die drei anderen zwängten sich in den Fond und mit jeder Person, die zustieg, ging das tapfere Fahrzeug ächzend weiter in die Knie, bis es am Ende aussah, als hätte Gloria ihn tieferlegen lassen. Zum Glück mussten sie wirklich nicht sehr weit fahren, denn wenn sie jetzt in eine Polizeikontrolle geriet, bekäme sie sicher einen Strafzettel wegen Überschreitung des zulässigen Gesamtgewichts.
Das letzte Stück der Fahrt ging es bergauf und nun zeigte sich, dass für diesen Job ein Off-Roader günstiger gewesen wäre. Auf einer Strecke von etwa hundert Metern überholte sie ein Mann auf einem uralten DDR-Mofa. Selbst die Automatikschaltung war überfordert, denn Gloria musste per Hand einen Gang tiefer schalten, um wieder etwas mehr in Fahrt zu kommen.
Endlich gelangten sie ans Ziel, das fast ebenso gammlig aussah wie der aktuelle Wohnsitz der Familie. Aus der dritten Etage hing ein Mann aus dem Fenster und rief: „Hey Manni, was macht ihr denn hier?“
Darauf Manni: „Ja, mal kucken, ne.“
„Ach ja“, schallte es von oben, „die Wohnung vom Kolle ist frei, der sitzt ja jetzt!“
Gloria ging Richtung Haus, drückte die Eingangstür auf und sagte einladend. „Hereinspaziert!, des einen Leid, des anderen Freud.“ Sie ging voraus und der Mann, der ihr entgegenkam, entpuppte sich sogleich als der Vermieter, der sie in die Wohnung führte.
Sie fanden vier Zimmer vor, eine Küche und einen kleinen Abstellraum von circa fünf Quadratmetern. Alles war zwar alt, aber in Ordnung. Die Tapeten saßen fest an den Wänden, jeder Raum verfügte über einen Heizkörper und Schimmel war nirgends zu entdecken, die Toilette schien Gloria auch recht stabil. Alle machten ein zufriedenes Gesicht und konnten sich gut vorstellen, hier einzuziehen. Insoweit lief alles gut, bis Frau Fricke anmerkte: „Das muss aber hurtig gehen, dass wir hier einziehen, wir stehen vor der Zwangsräumung.“
Ein Blick in das Gesicht des Vermieters verriet Gloria sofort, dass sie soeben fünfzig Prozent seines Vertrauens eingebüßt hatten.
„Wieso?“, fragte er, und Manni erklärte: „Der Vermieter ist ein Arsch und darum haben wir dem keine Miete gezahlt.“
Alle lachten und stimmten ihm zu. Fast alle, außer Gloria und dem Vermieter, aus dessen Miene sie ablas, dass jetzt die Hundert-Prozent-Marke erreicht war. Sie versuchte zu retten, was zu retten war, und erklärte: „Na, das stimmt so nicht. Die ARGE hat die Miete gekürzt, weil die Wohnung erhebliche Mängel aufweist.“
Ohne diese Gegendarstellung zu kommentieren, äußerte der Vermieter die in solchen Situationen gängige, nichtssagende Floskel: „Na gut, dann haben wir uns ja jetzt kennengelernt, ich werde mich dann bei Ihnen melden.“
Was er natürlich nie tun würde, wie Gloria wusste. Zutiefst entmutigt reichte sie ihm zum Abschied die Hand und ging mit ihren Schützlingen zum Auto zurück. Ihr wütendes Zähneknirschen wurde übertönt vom Ächzen ihres Wagens, als alle wieder einstiegen.
„Hoffentlich ruft der alte Sack b a l d an“, maulte Beate.
Das kannst du vergessen, dachte Gloria. „Wir wollen nicht allzu viele Hoffnungen reinsetzen, da sind bestimmt noch mehr Interessenten für die Wohnung“, dämpfte sie Beates Enthusiasmus.
Herrgott, wie kann man nur so ungeschickt sein, dachte sie, ich hätte sie impfen sollen, ihnen sagen, dass sie bloß die Klappe halten und nur mich reden lassen sollen! Aber was soll’s, das nächste Mal weiß ich’s besser.
Sie setzte die Familie zu Hause ab und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich melde mich in den nächsten Tagen wieder, schlage ich vor. Ich werde sehen, dass ich noch weitere Besichtigungstermine ausmachen kann. Je nachdem muss ich dann ziemlich spontan wiederkommen.“
Damit waren alle einverstanden und Gloria fuhr davon, wobei sie vor Wut am liebsten ins Lenkrad gebissen hätte. Wie kann jemand so unbedacht sein?, wütete sie in Gedanken. Die hätten doch wissen müssen, dass man so keine Wohnung bekommt! Sachkenntnis gleich null. Hat die Frau Fricke gedacht, sie kriegt die Wohnung eher, wenn sie auf die Tränendrüsen drückt? Hat sie gedacht, der Vermieter würde ihr die Wohnung geben, weil sie in Schwierigkeiten ist? Und der Manni darf nächstes Mal nicht mehr mit. Der hat ja echt den Vogel abgeschossen! Der hat wahrscheinlich noch gar nicht begriffen, wie ernst die Lage für die Familie ist. In drei Wochen müssen die aus der Wohnung raus, und wenn sie bis dahin keine andere gefunden haben, sitzen sie auf der Straße. Und das bedeutet, dass Astrid ins Heim kommt, weil das Jugendamt zur Auflage gemacht hat, dass sie auf keinen Fall bei ihrer Mutter leben darf. Das sollte ich der Frau Fricke unbedingt noch mal klarmachen. Am besten nehme ich nur sie mit, dann kann ich sie entsprechend vorbereiten. Ich will der Familie ja gerne helfen, dachte sie, aber das setzt voraus, dass sie bereit sind, sich zu ändern, alle miteinander. Nur wenn sie wirklich erkennen, in welchem Dilemma sie leben, und es in Zukunft besser haben wollen, kann ich etwas erreichen.
Schließlich riss das Klingeln ihres Handys Gloria aus ihren Gedanken. Herr Klimm wollte wissen, wie ihr erster Arbeitstag verlaufen war. Er kommentierte ihre Geschichte mit: „Ja, das ist typisch.“ Auch für ihre Klagen, dass die Leute nur leicht bekleidet gewesen waren, fand er nur ein lapidares „Das ist deren Dienstkleidung“. Dann erbarmte er sich aber doch und erklärte Gloria, dass es sich bei dieser Familie um alten Hochadel handele.
„Hochadel?“, echote sie.
„Ja“, antwortete er, „die leben schon in der dritten Generation von Sozialhilfe. Das sind nun mal Bockels!“
„Bockels? Was ist denn das?“
„Na, Asoziale, die nennen wir hier Bockels.“
Aha, dachte Gloria, hab ich mir doch gedacht, bei Frickes ist schon beim Start vieles schiefgelaufen und danach wurde es sicher nicht besser. Gloria nahm sich fest vor, ihr Bestes für die Familie zu tun, war aber realistisch genug, um einzusehen, dass sie an Grenzen stoßen würde, nicht zuletzt deshalb, weil die Familie wahrscheinlich andere Maßstäbe für ein erfülltes Leben hatte als sie. Da musste sie sicherlich einige Abstriche machen und ihre Erwartungen zurückschrauben. Bockels, dachte sie, das ist doch meines Wissens ein Synonym für Idioten. Dass Klimm so abwertend über diese Menschen redet, finde ich Scheiße. Ich hoffe, mir passiert das niemals, dass ich Menschen so verachte, nur weil sie sich in eine schlimme Situation gebracht haben. Ich ärgere mich über Frau Fricke und Manni, aber deshalb verachte ich sie doch nicht. Man muss das erst mal durchhalten können, so zu leben wie die Frickes. Klimm hätte sich wahrscheinlich schon einen Strick genommen!
Dank dieser Einsicht fühlte sich Gloria erleichtert und wieder etwas beschwingter und freute sich auf ihre schöne, saubere Wohnung. Selbst das Einparken gelang mit ungewohnter Eleganz, und ihr vorläufig letzter Gedanke an die Familie Fricke sorgte dafür, dass sie leise lächelnd der Tür zu ihrem Domizil zustrebte. Die Frickes bräuchten auch einen Henk, dann sähe es bei denen nicht so aus!
4
Gloria stellte ordentlich ihre Schuhe ab, schlüpfte in ihre Hausschlappen und stutzte. Irgendetwas ist anders! Irgendetwas ist hier nicht so, wie es sein sollte, rätselte sie eine Weile vor sich hin, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Staubmäuse! In meiner Wohnung sind Staubmäuse!
Auch auf den Möbeln lag Staub, wie Gloria bei einem Rundgang feststellte. In der Küche stapelte sich ungewaschenes Geschirr, die Arbeitsmaterialien von Henk lagen herum. Was war mit ihm los? Hatte er beim Umzug seinen Putzlappen vergessen? Sie erinnerte sich an ihre Zeit in der Wohngemeinschaft mit Henk, Nick und Bernd. Damals hatte Henk geputzt, was der Lappen hielt. Keiner brauchte sich Gedanken um Hygiene und Sauberkeit zu machen, Henk erledigte alles. Er sorgte für einen klaren Blick durch die Fenster und dafür, dass alle ihre Schuhe an der Tür auszogen. Das war doch das stärkste Argument gewesen, warum sie sich auf eine Zweier-Wohngemeinschaft mit ihm eingelassen hatte. Dass er die Lampen aufhängen konnte, Regale an die Wand dübeln, Sprudelkästen hochschleppen. Und dass er putzte. Und nun? War er in den Streik getreten?
Aufgebracht klopfte Gloria an Henks Tür und stürmte hinein, ohne eine Antwort abzuwarten. „Henk, was ist denn los, hast du Gicht an deinen Händen? Soll ich dich bei der Rheuma-Liga anmelden? Hast du mal gesehen, wie es hier aussieht, wieso putzt du nicht mehr? Wenn Tom dahintersteckt, hat er ab sofort Hausverbot!“
Gelassen sah Henk sie an und entgegnete:
„Weißt du, ich habe mir das noch mal gründlich durch den Kopf gehen lassen. Du hast doch mal gesagt, die Hände sind die Visitenkarten eines Menschen. Ja, und ich will keine Putzmann-Hände mehr haben. Außerdem habe ich ein neues Hobby, das sehr zeitaufwendig ist.“
Mit einer einladenden Geste öffnete er eine große Kiste, deren Inhalt Gloria aus allen Wolken fallen ließ.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein! Das ist dein neues Hobby? Ich glaub bei mir wird demnächst ein Zimmer frei!“
Eine neuerliche Begutachtung des Inhalts der Kiste überzeugte sie von der Richtigkeit ihrer ersten Wahrnehmung: Da fanden sich zwei Pfeifen, Tabak und alles Zubehör, das für einen Pfeifenraucher unabdingbar ist.
Im Brustton der Überzeugung versicherte Henk, dass es keinerlei Grund gebe, ihn deshalb auszuquartieren. „Erstens“, merkte er an, „bin ich nicht Meister Proper, und ich habe keine Lust, mein Leben mit Putzen zu verbringen. Zweitens will ich mich geistig auf meine Karriere als Architekt vorbereiten. Wer was auf sich hält, raucht Pfeife.“
„Mir scheint, du bereitest dich eher auf den Ruhestand vor!“, hielt Gloria dagegen, „zum Pfeiferauchen muss man mindestens fünfzig sein. Außerdem ist das Vorspiegelung falscher Tatsachen. Ich hab dich hier einziehen lassen, weil du alle Anzeichen eines Putzzwangs hattest. Von einer Spontanheilung war nie die Rede!“
Das Klingeln an der Tür unterbrach ihre Gardinenpredigt. Widerwillig ging sie zum Türöffner. „Ja?“
„Hier ist Elena. Ich wollte Bücher abholen.“
„Henk, für dich!“, rief Gloria, drückte den Knopf und entschwand in ihr Zimmer.
Im Flur entspann sich ein lebhafter Dialog, auf Henks Seite in fließendem Deutsch, auf Elenas Seite jedoch mit deutlich ausländischem Akzent. In den Windungen von Glorias Gehirn bahnte sich der Gedanke: „Russisch!“ seinen Weg und dockte da an, wo die „Pischka“ abgespeichert war. Der Geistesblitz folgte auf dem Fuß und sie riss ihre Zimmertür wieder auf. „Bist du Russin?“, fragte sie Elena.
„Ja, ich komme aus Nowosibirsk, bin aber schon zehn Jahre in Deutschland“, antwortete die.
„Ah“, rief Gloria erfreut, „dann kannst du mir bestimmt eine Frage beantworten. Neulich hat mich ein Kind Pischka genannt. Kannst du mir sagen, was das bedeutet?“
Elenas Augen wurden rund vor Staunen: „Was für Kinder kennst du denn?“
„Ja, das war ein wunderhübsches dreijähriges Mädchen“, war die einzige Erklärung, die Gloria ihr anbieten konnte, „warum?“
„Pischka heißt Hure“, klärte Elena Gloria auf und erkundigte sich weiter: „Arbeitest du etwa mit Kindern, die solche Ausdrücke draufhaben?“
Mit geübtem Ohr eine gewisse Herablassung heraushörend konterte Gloria mit einem Lächeln: „Jetzt nicht mehr!“, wandte sich ab und kehrte an ihren Computer zurück, um sich noch mal nach Wohnungen für „ihre Familie“ umzuschauen. Der Ärger über deren ungehobeltes Benehmen flammte noch einmal kurz auf, als ihre Suche erfolglos blieb, aber da war jetzt nichts zu machen. Seufzend schaltete sie den Computer aus, und weil sie von draußen schon eine Weile nichts mehr gehört hatte, linste Gloria in den Flur. Schwerer Tabakduft schlug ihr entgegen, Henk ritt riechbar bereits sein neues Steckenpferd, und etwas benommen klopfte sie an seine Tür.
„Henk?“
„Ja.“
„Hast du Lust, einfach eine Runde mit mir spazieren zu gehen? Wir könnten uns ja was zum Essen aus der Döner-Bude holen.“
Bereitwillig klopfte er seine Pfeife aus und, schön warm eingemummelt, gingen sie los. Draußen sog Gloria gierig die kühle Herbstluft ein. Der Abend war frisch und klar, durchaus unüblich zu dieser Jahreszeit, die für gewöhnlich mit Nebel nicht geizt. Gloria dachte noch mal kurz an Familie Fricke, die jetzt wirklich dringend eine Wohnung brauchte, im Winter obdachlos sein ist doch das Schlimmste, was einem passieren kann, fand sie.
Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit Henk und ihrem Anliegen: „Henk, lass uns noch mal drüber reden.“
Gemeinsam erörterten sie ihre jeweiligen Bedürfnisse und kamen bald überein, dass keiner von ihnen eine Gammelhütte wollte und sie sich deshalb über die Umsetzung ihrer Vorstellungen von Sauberkeit einigen mussten. Und zwar in Anbetracht der Tatsache, dass sie nur zu zweit waren, ohne Putzplan, sondern mittels einer Aufteilung der gemeinsamen Wohnbereiche in Putzquadranten, wobei Glorias Abschnitt die Küche sein sollte, und Henk sich um den Flur und das Badezimmer zu kümmern hätte. Außerdem verpflichtete sich Henk, sein Zimmer regelmäßig zu lüften.
Nachdem sie ihren Vertrag mit einer kleinen türkischen Mahlzeit besiegelt hatten, machten sie sich auf den Rückweg, weil Gloria früh in die Pofe wollte. Für den kommenden Tag war sie mit drei Kommilitonen verabredet, um noch vor dem ersten Seminar zu besprechen, wie sie sich die Vorbereitung des Referates Frühkindliche Entwicklungsstadien einteilen wollten.
Flotter als erwartet einigten sich die vier auf Aufgabenbereiche, Umsetzung und Materialien und dank der Tatsache, dass das bevorstehende Seminar cum tempore begann, also eine Viertelstunde später, blieb noch Zeit für Glorias Schwarzes Frühstück. Das gesamte Universitätsgebäude war kürzlich zum Nichtraucherschutzgebiet erklärt worden, sie musste also raus an die „Rauchertreppe“. Mit einem Becher schwarzem Kaffee in der einen Hand kramte sie mit der anderen ihr Zigarettenpäckchen hervor.
Würde Ärger Druckwellen erzeugen und wäre Henk in diesem Augenblick bei ihr gewesen, so wäre er mindestens zehn Meter weit weg geschleudert worden, er hatte nämlich ihre letzte Zigarette geklaut. Dieser Mistkerl, dachte Gloria, das ist doch echt das Letzte! Mit in zornige Falten gelegter Stirn sah sie sich um und siehe, der „Fahrraddieb“ hielt ihr wortlos sein Päckchen hin. Er gab ihr auch Feuer und eben setzte Gloria an, sich zu bedanken, da war ihr Kavalier ihren Blicken schon wieder entschwunden. Was für ein komischer Kauz, was will der eigentlich?, überlegte Gloria, der wird langsam zum Satelliten, der beobachtet mich ständig, warum spricht er mich nicht einfach an, statt immer gleich wieder abzuhauen.
Nach Beendigung ihres Frühstücks besuchte sie bis fünfzehn Uhr diverse spannende und weniger spannende Vorlesungen. Auf dem Weg nach Hause sprach sich ihr hungriger Magen dafür aus, den Italiener anzusteuern und dort um einen knackigen Salat zu ersuchen, als ihr Handy rappelte. Frau Fricke. Mit vor Aufregung kieksender Stimme erzählte sie, sie habe eine Wohnung gefunden.
„Wie, Sie haben eine Wohnung gefunden?“, fragte Gloria überrascht.
„Ja, wir haben eine Wohnung, alles ist schon wasserdicht, wann können Sie vorbeikommen?“
„Toll!“, rief Gloria, „ich muss nur noch schnell etwas essen, dann komme ich direkt. So gegen vier?“
In aller Eile stillte sie also die Bedürnisse ihres Verdauungsapparates und fuhr dann zu den Frickes. Auf ihr Klingeln öffnete Frau Fricke die Tür und da standen sie alle. Mehr oder weniger angezogen, in jeder Hand eine vollgestopfte Plastiktüte, auch die kleine Astrid, die Gloria heute zum ersten Mal begrüßen konnte.
„Wir sind fertig“, sagte Frau Fricke, „ich hoffe, Ihr Kofferraum ist leer.“
Etwas skeptisch blickte Gloria ihren Benz an. Alle Frickes und mit Gepäck? Ob er das verkraften würde?
„Ich habe keinen Kindersitz“, unternahm sie einen schwachen Versuch, sich zu drücken.
„Ach, das macht nichts, die Astrid setzt sich beim Manni auf den Schoß!“
Widerspruch zwecklos, sah Gloria sofort ein, mit dieser Familie hatte eine Diskussion über die Imperative der Straßenverkehrsordnung keinerlei Sinn. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als mit einem Stoßgebet den Wagen zu öffnen und der Flut von Frickes Einlass zu gewähren. Auf der Fahrt erklärte ihr Frau Fricke, welch wunderliche Wege Gottes ihrer Familie das neue Domizil beschert hatten. Ihre Tochter bewohne mit ihrem Freund die zweite Etage eines Siedlerhauses, das dem Stiefvater besagten Freundes gehört habe. Der sei vor zwei Tagen verstorben und so könnten sie sofort dort einziehen.
Gloria schluckte schwer. Nicht, dass sie besonders religiös gewesen wäre, aber das hier fand sie ziemlich pietätlos. Wahrscheinlich lag der arme Mann noch im Leichenschauhaus und seine Wohnung wurde bereits beschlagnahmt.
In der Krummen Gasse Nr. 6 öffnete eine schlanke, rothaarige Frau mit Brille und begrüßte sie erfreut: „Ah, Sie sind bestimmt die Frau Grothe!“
Das kann nur die Mutter von Astrid sein, dachte Gloria.
„Ja“, antwortete sie, „und ich helfe jetzt Ihrer Familie ein bisschen. Ihre Mutter hat erzählt, hier sei eine Wohnung frei.“
Ohne ein Zeichen der Traurigkeit begrüßte Klaudia Fricke ihre Familie und bat alle herein. Der Verblichene hatte eine Wohnung mit vier Zimmern, einer Küche und einer kleinen Dusche hinterlassen. Die Blümchentapeten in allen Räumen verrieten zweierlei. Erstens: Das Datum der letzten Renovierung lag ungefähr dreißig Jahre zurück. Zweitens: Nach dem braunen Gilb zu schließen, der sich über den ehemals weißen Grund der Tapeten gelegt hatte, war der Mann schwerer Raucher gewesen. Unterbrochen wurde das florale Einerlei von Fotografien, auf denen Familienmitglieder des Verstorbenen abgebildet waren. Das Mobiliar war zu seiner Zeit sicher ein Brüller gewesen. Eine Couch, bezogen mit grünem Cord, lud zum Verweilen ein, flankiert von passenden Sesseln. Dazwischen ein alter Couchtisch mit einer seitlich angebrachten Kurbel zur Höhenregulierung. Die gegenüberliegende Wand wurde eingenommen von einem enormen Schrank, der Platz bot für einen antiquierten Fernseher und eine Hausbar sowie ein betagtes Kaffeeservice hinter Glas.
Die Frickes und auch Gloria suchten sich einen Platz und ließen sich nieder. Astrid krabbelte sofort auf Glorias Schoß, obwohl die Kleine sie erst etwa dreißig Minuten kannte. Das Kind ist ja total distanzlos, dachte Gloria, wahrscheinlich eine Bindungsstörung.
Klaudia, nunmehr stolze Hausbesitzerin, erzählte, unter welchen Umständen der alte Herr seinen Hauptwohnsitz auf den Friedhof verlegt hatte.
„Also der Opa, der hat wohl morgens ’nen Herzinfarkt gehabt. Aber das haben wir ja nicht gleich gemerkt. Erst irgendwann am Abend bin ich runter und wollte ihn fragen, ob er mir was leihen kann, und da saß er da, mausetot. Ach übrigens“, wandte sie sich mit einem fetten Lachen an Karsten, den Dünnen, „der saß auf dem Sessel, wo du jetzt sitzt!“
„Ist mir doch egal“, versetzte der, „jetzt ist der Platz jedenfalls frei. Außerdem muss ich mir jetzt eh mal was anziehen, mir ist kalt.“ Er erhob sich und ging hinaus. Kurze Zeit später kam er wieder herein, angetan mit einem türkisfarbenen Pullover, auf dem vorne ein großer Kaffeefleck prangte.
„Der Pulli hat einen Kaffeefleck“, bemerkte Gloria und dachte zugleich: Hast auch schon mal scharfsinnigere Bemerkungen gemacht, wahrscheinlich weiß Karsten das sowieso, und außerdem ist ihm vermutlich auch das egal.
Und richtig, gleichmütig meinte Karsten: „Dafür kann ich nichts, das war wohl der Opa. Hätt er ja auch mal waschen können!“
„Wie, der Opa?“
„Na ja, ist doch alles noch da, die ganzen Klamotten und so.“
Begriffsstutzigkeit zählte Gloria an sich nicht zu ihren Eigenschaften, aber hier verflüchtigte sich ihre Auffassungsgabe. Mit stupide geöffnetem Mund antwortete sie nichts weiter, sondern stand auf und machte einen Rundgang durch die restlichen Zimmer.
Alles war genau so, als würde der Vorbesitzer der Wohnung noch unter den Lebenden weilen. Seine Schränke waren ordentlich bestückt mit seinen Sachen, von der Unterwäsche über die Oberbekleidung bis zu den Schuhen. Das große Bett erweckte den Eindruck, als lebe hier ein Paar, obwohl die Frau schon vor vielen Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Auf dem Nachtschränkchen stand noch, zusammen mit einigen anderen persönlichen Gegenständen, ein Bild von ihr. Im Badezimmer hingen noch die benutzten Handtücher, ein Sammelsurium von Hygieneartikeln und Produkten zur Körperpflege gab Auskunft über die Toilettengewohnheiten des Vorbewohners. In einer Ecke stand ein Katzenklo.
An der unverzüglichen Inspizierung der Küche wurde Gloria von Frau Fricke und Klaudia gehindert, die plötzlich vor der Badezimmertür standen.
„Wann ist denn alles so weit geräumt, dass Sie mit dem Renovieren anfangen können?“, fragte Gloria.
Die beiden sahen sich an, als sei ihnen noch nie ein solches Maß an Beschränktheit untergekommen, und Frau Fricke antwortete: „Wieso, Frau Grothe, hier ist doch alles, was man braucht, was sollen wir da noch räumen? Also wir sind ja jetzt hier eingezogen.“
„Aber, da sind doch noch all die Sachen von dem alten Herrn, die Bilder an den Wänden, die Leute kennen Sie doch gar nicht!“, machte sich Gloria weiter lächerlich.
Frau Fricke tauschte erneut einen Blick mit ihrer Tochter und erwiderte dann in einem Ton, als spräche sie mit einem Kleinkind: „Ja, ja, aber das macht ja nichts. Und außerdem, da, wo der Alte jetzt ist, kann er mit den Sachen eh nichts mehr anfangen, wir aber schon!“
Jetzt erkannte Gloria zumindest den Sinn für das Praktische bei dieser Familie. Dann dämmerte ihr die ganze Ungeheuerlichkeit dessen, was sie vorhatten. Ganz offensichtlich gedachten sie ohne jede Veränderung hier zu leben, als seien sie bereits seit Jahrhunderten die rechtmäßigen Besitzer der Örtlichkeiten. Für einen Moment schloss sie die Augen und dann, wieder halbwegs im Vollbesitz ihrer Fassung, erkundigte sie sich: „Aber da sind doch schon noch einige Dinge vorzubereiten. Zum Beispiel die Katze, die wird sich doch sicher nicht mit Ihrem Hund vertragen.“
In diesem Augenblick kam Astrid um die Ecke und verkündete mit einem schadenfroh anmutenden Lachen: „Der Hund ist heute Morgen ausgezogen. Den haben wir vor dem Tierheim an den Zaun gebunden!“ Sie hatte wohl nicht sehr an dem Tier gehangen.
Endlich trat Glorias kurzfristig in Urlaub gegangene Schlagfertigkeit ihren Dienst wieder an und mit einem Blick auf die Waschmaschine, die voller ungewaschener Kleidungsstücke in der Ecke stand, zog sie mit der Familie gleich: „Wollen wir nicht die Waschmaschine anschalten? Dann können Sie morgen früh die Socken vom Opa anziehen!“
„Das wollte ich vorhin schon machen“, warf Klaudia ernst ein, „aber der Opa hat wohl vergessen, Waschmittel zu kaufen!“
Noch gab sich Gloria nicht geschlagen: „Ja, und wie ist das mit den Erben? Das muss ja auch noch geregelt werden!“
„Nee“, erklärte Klaudia, „der Erbe ist mein Freund. Und den Schmuck und das Geld, das hier war, hat er schon geholt, kurz nachdem der Opa rausgetragen war!“
Okay, das hat gar keinen Sinn, hier den moralischen Zeigefinger zu heben, dachte Gloria, die verstehen das einfach nicht, das muss ich wohl akzeptieren.
Sie wanderte wieder ins Wohnzimmer, wo die anderen sich angeregt anschwiegen, und fragte: „Wer will jetzt noch mit nach Hause fahren, die restlichen Sachen abholen?“
Nun war es Frau Fricke, die von Verständnislosigkeit heimgesucht wurde.
„Wieso, das ist doch jetzt unser Zuhause!“
„Ja und die ganzen Möbel und die Spielsachen von Astrid und der Vogel und die Küche, das Geschirr und das alles?“
„Ach das!“, rief Frau Fricke aus, „ach, da haben wir schon eine Entrümpelungsfirma angerufen, die erledigen das. Und die Spielsachen von Astrid und den Vogel holen wir nächste Woche ab.“
„Und wer füttert den Vogel bis dahin?“, verlangte Gloria zu wissen, ganz besorgt, wie viel Vogel Frau Fricke nächste Woche wohl noch vorfinden würde.
„Dem haben wir genug Futter und Wasser dagelassen, der muss sich das nur vernünftig einteilen!“
„Okay, dann fahr ich jetzt mal. Ich würde dann gerne am Sonntag noch mal kommen und dann können wir besprechen, wie es weitergehen soll.“
„Ja, ja“, meinte Frau Fricke leutselig, „wir sind ja immer zu Hause.“
Gloria machte eine Notiz in ihrem Kalender und Frau Fricke begleitete sie zur Tür. Auf dem Nachhauseweg beschloss Gloria, beim Tierheim vorbeizufahren, um zu sehen, ob der Hund auch Aufnahme gefunden hatte. Dem schien so zu sein, denn sie konnte weit und breit keinen Hund entdecken, was sie sehr beruhigend fand. Andererseits, dachte sie, kann er sich auch losgerissen haben oder jemand anderer hat ihn mitgenommen. Ich ruf lieber später mal an und frage nach. Sie schrieb sich die Telefonnummer auf und fuhr nach Hause.
Das ist schon verrückt, dachte sie, wie unsensibel die mit dem Tod eines Menschen umgehen, die Frickes. Andererseits ist es ja auch eine Fähigkeit, eine Chance zu erkennen und gleich zu nutzen. Wer würde das denn schon machen? Den meisten Leuten, die ich kenne, wäre der Gedanke, in eine Wohnung zu ziehen, in der nur einen Tag vorher jemand gestorben ist, so unangenehm, dass sie lieber verzichten würden. Auch wenn sie dann vielleicht auf der Straße säßen. Aber niemand von Glorias Bekannten war jemals in so einer Situation gewesen. Wahrscheinlich lernt der Mensch erst in Notlagen, über seinen Schatten zu springen. Mitgefühl muss man sich leisten können, insofern ist es ein Luxusgut. Wenn man bedenkt, im Krieg haben die Menschen den Toten die Schuhe ausgezogen, weil sie selbst keine mehr hatten. Heutzutage wäre das Leichenfledderei, aber damals trug diese Fähigkeit zum Überleben bei. Und die Frickes werden auch immer überleben. Das ist eindeutig eine Stärke, beschloss Gloria ihren philosophischen Exkurs.
Sie war so vertieft in ihre Gedanken, dass sie erst bemerkte, dass sie zu Hause angekommen war, als sie die Wohnungstür hinter sich schloss.
Henk war schon von der Uni zurück und baute Pfeife rauchend an seinen Modellen. Die Distanz zwischen Pfeife und Bauwerk weckte vage Erinnerungen an Brandschutzbestimmungen in Glorias Gehirn.
„Hallo Henk, hast du da Feuermelder eingebaut, die du gerade ausprobierst?“, fragte sie ihn.
„Hast du deinen witzigen Tag heute?“, gab er zurück.
„Oh nee, wenn du wüsstest! Ich hab heute Sachen erlebt, am liebsten würde ich mich von innen desinfizieren! Haben wir Schnaps im Haus?“
„Du verträgst doch gar keine harten Sachen!“
„Ja, aber an manchen Tagen schreit mein Körper danach und heute ist so ein Tag! Ob ich Hochprozentiges vertrage oder nicht!“
Schmunzelnd legte Henk seine Utensilien beiseite und meinte: „Okay, ich kann auch eine Pause vertragen. Lass uns in die Kneipe um die Ecke gehen!“
In der Bar Inkognito bestellte Gloria nach langem Studium der Getränkekarte einen Kräuterlikör auf Eis.
„Damit schlage ich drei Fliegen mit einer Klappe“, teilte sie Henk zufrieden mit, „der desinfiziert, sorgt für Zufuhr gesundheitsfördernder Substanzen und kühlt mein Mütchen.“
Henk trank ein gewöhnliches Bier und sie tauschten die Eindrücke des Tages aus.
Im Bett zeigte sich eine weitere Wirkung des Likörs: Gloria fiel sofort in einen so tiefen, traumlosen Schlaf, dass sie schon sehr früh am nächsten Morgen aufwachte und sich trotzdem munter fühlte wie ein Fisch im Wasser. Durch dünne Nebelschwaden zeichnete sich ein sonniger Herbsttag ab, was ihr Gesundheitsbewusstsein befeuerte. Sie fuhr mit „Porsche“ zur Uni und fand sich erfrischt und voller Energie im ersten Seminar ein. Heute war eine Dreiergruppe von Kommilitonen zu hören mit einem Referat über Möglichkeiten der Integration türkischer Mitbürger. Der Vortrag war sehr gut ausgearbeitet und interessant präsentiert. Häufiges zustimmendes Nicken des Professors, gepaart mit einem sehr zufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht interpretierte Gloria als Zeugnis der Konformität mit ihrem eigenen Urteil, und sie speicherte so viel sie konnte in ihrem Gedächtnis als Orientierungshilfe für ihr Referat ab.
So verging die Woche in stetem, gleichförmigem Rhythmus. Vorlesungen, Seminare, Mittagessen, Seminare, abends Lernen oder sonstige Vorbereitungen im Zusammenhang mit dem Studium. Das einzige auflockernde Element begegnete Gloria während einer Vorlesung in Gestalt eines Kommilitonen mit gleichermaßen beeindruckender Körper- wie Haarlänge. Seine Haartracht rief ihr die warnenden Worte einer Freundin ins Ohr. Wahrscheinlich fuhr er auf Reggae ab oder fühlte sich anderweitig den Rastafaris nahe, jedenfalls trug er eine Wolle auf dem Kopf, die vollauf für einen Pullover genügt hätte. Nun hatte ihr besagte Freundin erzählt, dass diese Form der Frisur allerlei unliebsamen Genossen aus der Fauna Zuflucht gewähren konnte, und unwillkürlich lehnte sich Gloria in ihrem Sitz zurück. So versperrte er ihr jedoch komplett die Sicht nach vorne. Auch rechts oder links konnte sie nicht an ihm vorbeisehen. Sich ins Unvermeidliche schickend ließ sie ihre Gedanken wandern. Sind die Locken alle echt oder hat er falsche eingezwirbelt? Was die wohl wiegen mögen? Ich möchte nicht wissen, was der an Shampoo im Monat braucht. Und wenn er auf dem Klo sitzt, wo tut er die dann hin, bindet er sie hoch, das muss er ja quasi, sonst … An diesem Punkt untersagte sie sich weiterführende Überlegungen und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit darauf, wenigstens auditiv so viel wie möglich vom Vorlesungsthema mitzubekommen.
Am Samstag bummelte Gloria ein wenig durch die Innenstadt, kaufte ein, räumte auf und putzte und verbrachte den Abend mal wieder mit Freundinnen im Schweinehof. Allerdings musste sie dieses Vergnügen früh beenden, wollte sie doch Sonntagmorgen mit Henk brunchen gehen und sich danach um die weiteren Belange der Frickes kümmern.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (ePUB)
- 9783945298459
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Februar)
- Schlagworte
- Sozialarbeitern familienhilfe liebe humor beziehung harz soziale konflikte soziales niveau beruf studentin wohngemeinschaft wg erster job universität sozialpädagogik uni