Zusammenfassung
Nur sein Mitbewohner Thomas ist ihm dort ein Freund. Vom Direktor drangsaliert und missbraucht, verliert Lothar nicht nur seine kindliche Unschuld, sondern auch all seine Würde und Lebensfreude.
Szenenwechsel: Schon seit Jahren erschüttert die älteste Stauferstadt Schwäbisch Gmünd eine Mordserie, die ihren grausamen Höhepunkt immer an Heiligabend findet.
Kommissar Sigurd Weller beißt sich an diesem Fall die Zähne aus, und das kurz vor seiner Pensionierung. Wird er mit seinem jungen Kollegen Stefan Passlack und der aufgeweckten Polizeianwärterin Michaela Pelongrin, genannt Veggi, seinen letzten Fall aufklären können? Die sogenannten „Sonnenkinder“ bringen das Trio schon bald auf eine heiße Fährte.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Teil 1
DIE QUALEN UND DIE TOTEN
10. August 2003
Die Flammen schlugen aus dem Häuserdach. Tobend, lodernd und voller Kraft. Die Hitze brannte auf den Hautpartien, die der feuerfeste Feuerwehranzug offen ließ. Michael Siegsdorf wollte nur eines: Helfen. Das Kommando an ihn und seine Kollegen lautete: »Holt die achtköpfige Familie dort raus!«
Für den routinierten Feuerwehrmann waren die Bilder kaum zu verarbeiten. Eltern, Großeltern, Kinder, alle hatten sie gemeinsam den Heiligabend miteinander verbringen wollen. Und dann war das Inferno ausgebrochen. Zwischen Plätzchengeruch und bunt verpackten Geschenken hatten sich die Flammen unaufhaltsam ihren Weg gesucht. Die Familie im dritten Stock des Hauses war völlig überrascht worden. Jeder Fluchtweg nach unten war abgeschnitten. Und die Flammen hatten kein Erbarmen; sie hatten in Windeseile Raum für Raum erobert, Zimmer für Zimmer, und hatten durch das Treppenhaus gelodert, wie durch einen Kamin vorangetrieben, nun waren sie auch im obersten Teil des Gebäudes, dem Dachstuhl, angekommen.
Siegsdorf lauschte, ob es ihm möglich war, trotz des Knackens des Feuers, trotz der knarzenden Balken, Hilferufe zu vernehmen. Doch kein Laut drang an seine Ohren. Die Hitze war unerträglich. Immer wieder fasste er sich an seine Unterarme, hatte den Eindruck, das Feuer würde direkt in ihm ausbrechen. Noch hatte das Wasser kaum Wirkung gezeigt. Zu brutal schien die Hitze, zu mächtig die Flammen.
Unter den Augen vieler Schaulustiger dauerte es Stunden, ehe die Feuerwehrmänner Herr der Lage waren. Zurück blieb nur ein verkohlter Altbau, dessen alte Mauern minütlich nach innen sanken und so alles unter sich begruben.
Die Erlebnisse an diesem Abend verfolgten Siegsdorf noch lange. Die kriminologische Untersuchung hatte das Schlimmste erst wirklich zutage gebracht – Wochen später! Die gesamte Familie war in den Flammen umgekommen. Für Siegsdorf und seine Kollegen war dieser Brand die fürchterlichste Niederlage ihres Lebens. Noch Monate später sah Siegsdorf in seinen Träumen das Feuer lodern und empfand die Flammen wie ein höhnisches Gelächter: »Du hast keine Chance!«
Als die Albträume kein Ende mehr nehmen wollten, zog er die Reißleine. Obwohl viele seiner Kameraden ihn umstimmen wollten, hängte er seinen Feuerwehranzug an den Nagel. Sein Abschied war still und leise. So erdrückend still wie seine künftigen Weihnachtsfeste. Das Drama der Familie hatte ihn gezeichnet. Eines Morgens schlug er die Zeitung auf: »Brandursache scheint geklärt! Familien wurden Opfer eines Anschlags!«
Ein Anschlag? Waren nicht alle davon ausgegangen, es wäre eine Verquickung unglücklicher Umstände gewesen? Der Klassiker an Heiligabend: ein brennender Weihnachtsbaum. Kerzen als Initialzündung? Beim Herunterfallen das dürre Bäumlein in Brand gesetzt? Und noch bevor es jemand bemerkte, hatte das komplette Zimmer gebrannt wie Zunder? So jedenfalls hatten die Beamten der Polizei vermutet. Außerdem waren in der Garage mehrere Kanister mit einer Benzinmischung entdeckt worden. Alles sprach dafür, dass die Familie einfach Pech gehabt hatte.
Doch nun waren die Vorzeichen andere. Was Siegsdorf erst beim Lesen des Artikels wahrnahm: Der Vater der Familie hatte Geburtstag gehabt: An Heiligabend. An dem Tag, an dem seine ganze Familie und er selbst ums Leben gekommen waren. Dramatisch genug. Doch nun sollte sich auch noch zeigen, dass sie alle Opfer eines Mordanschlags wurden?
Siegsdorf spürte, wie in ihm die gleiche Übelkeit wieder nach oben kam, wie damals, als er hilflos auf der Drehleiter gestanden und nach Rufen gelauscht hatte. Doch nichts als Stille hatte er vernommen.
Sommer 2003 – Bei Lola
Lola musste lachen. Kaum einen Freier hatte sie bislang erlebt, den sie mehr schätzte. Immer wenn Lothar bei ihr war, konnte sie lachen. Dass sie als Edelhure im Vergleich zu anderen gut angesehen war, wusste sie. Unter ihrem Szenenamen ›Lola‹ bediente sie nur die besser gestellten Kunden. Spaß an ihrem Job hatte sie nicht. Wer auch immer etwas anderes behauptete, den schaute sie nur fragend an. Spaß am Verkaufen des eigenen Körpers? Welcher Frau konnte das schon gefallen? Und für viele ihrer Freier empfand sie nur eines: Verachtung.
Mit Lothar war alles anders. Lola wusste, dass er sich nur wegen ihr so nannte. Auch wenn das Klischee der Nutte, die sich in einen ihrer Käufer verliebte, längst nicht zutraf, so sah sie in ihm mehr einen Freund als einen Freier. Denn er gab ihr nach dem Akt vor allem eines: Zeit zum Lachen, ein liebes Wort und Zeit, um sich zu erholen. Denn er war bereit, für die doppelte Zeit zu bezahlen – ohne daran zu denken, mit ihr »noch eine zweite Nummer zu schieben«, wie sie ihm bei ihrem ersten Treffen noch vorgehalten hatte. »Du bezahlst mich doppelt – also willst und kriegst du auch die doppelte Leistung!« Er hatte den Arm um sie gelegt und nur entgegnet: »Jetzt komm mal runter, vielleicht will ich mich einfach nur mit dir unterhalten!«
»Mach das mit deiner Frau – dafür bin ich nicht zuständig«, hatte sie geblafft. Und ihn damit verstört und gekränkt. »Wenn Du mit jemandem reden willst, dann geh zu deinem Therapeuten!«
Lothar hatte nur den Kopf geschüttelt, sich angezogen, ihr die vereinbarte doppelte Summe in die Hand gedrückt und war gegangen.
Schulterzuckend war Lola in ihrem Appartement geblieben. Er hatte ihr die kalte Schulter gezeigt. Und monatelang hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Doch ihre Gedanken kamen immer wieder auf ihn. Vor allem dann, wenn wieder einmal ein Kunde sie nicht so behandelt hatte wie vereinbart. Gewalt? Das war für sie als hübsche Frau Mitte zwanzig nie ein Thema gewesen. Auch gegenüber ihren Freiern hatte sie von Anfang gezeigt, dass sie bestimmte, wo es lang ging. Bis vor einigen Jahren. Ein Kunde hatte sie bedrängt, war immer brutaler geworden, hatte sie gefesselt und sie bestialisch gequält. Erst Stunden später war sie von einer ihrer Kolleginnen gefunden worden. Blutüberströmt und mit blauen Flecken am ganzen Körper.
Je mehr sie über dieses Kapitel ihrer Vergangenheit nachdachte, desto mehr gingen ihre Gedanken zurück zu Lothar. An seinen liebevollen Umgang. Und an ihre dumme Art, ihn wegzustoßen. Aber zu ihr zu kommen, war ganz alleine seine Entscheidung. Sie war es doch selbst, die ihn beleidigt hatte. So erlebte sie Kunde um Kunde, und weiter hatte sie das Gefühl, dass alle sie ankotzten.
Eines Abends stand er plötzlich vor ihr.
Er lachte sie an. Herzlich und irgendwie schelmisch bittend: »Darf ich doppelt bezahlen?« Und bekam dennoch prompt die Antwort: »Kommt gar nicht in die Tüte!«
Auch Lola lachte, schnappte ihn an seinem Unterarm und führte ihn in ihr Schlafzimmer.
»Was willst du?«, sagte sie in einem freundlichen Ton. Und er entgegnete: »Was soll ich bei dir schon wollen?«
Erstaunt schaute sie auf und vernahm dabei deutlich sein spitzbübisches Grinsen.
»Mein Gott. Du bist so blöd«, sagte sie. »Du willst mich? Dann nimm mich! Oder ist noch etwas anderes?«
Lothar setzte sich neben Lola auf das kleine Plüschsofa. »So«, dachte er in dieser Sekunde, »genau so habe ich mir immer das Mobiliar eines Puffs vorgestellt.«
»Was ist?«, fragte sie.
»Können wir uns woanders hinsetzen, als auf diese Puffcouch?«
»Was erwartest du? Du bist in einem Puff ...«
»Das weiß ich, und trotzdem bin ich nicht nur aus diesem Grund hier bei dir! Vielleicht hast du dieses Mal Lust, dich zu unterhalten?«
Und so entwickelte sich über Monate hinweg eine Freundschaft, die in ihrem Milieu verschrien war: Freier liebt Nutte, Nutte liebt Freier! Der Ehrenkodex, nichts mit einem Kunden anzufangen, hatte auch für Lola über viele Jahre hinweg gegolten. Und dann war es plötzlich doch geschehen. Oder etwa doch nicht?
Es brauchte viele Wochen und viele Besuche Lothars, bis sie sich eingestand, dass sie ihn nicht wirklich liebte. Und er sie auch nicht.
Er hatte die Initiative übernommen: »Sei mir nicht böse. Aber Liebe ist es nicht, die ich für dich empfinde. Ich fühle mich zu dir hingezogen, bin gerne in deiner Nähe. Und ich liebe es, wenn du mir zuhörst. Aber lieben? Nein, das ist nicht das gleiche. Du bist für mich wie eine Schwester.«
Zunächst hatte Lothar erwartet, den Stuhl vor die Tür gestellt zu bekommen – wie bei seinem ersten Besuch. Doch etwas anderes geschah. »Ich bin froh, dass du den ersten Schritt gemacht hast. Denn mir geht es genauso. Können wir Freunde sein?«
Er lachte. Sie auch. Doch ganz wohl war es Lothar in der Situation nicht: »Also, Freunde ist recht und schön. Aber ab und zu mit dir schlafen möchte ich dann doch!«
Sie hätte sich wegschmeißen können vor Lachen: »Das hast du selbst in der Hand! Denn dafür musst du schließlich bezahlen. Also, solange du es dir leisten kannst ...«
Er nickte: »Dann ist ja alles geritzt! Ich glaube, so viel Geld kann ich noch aufbringen.«
»Und wenn es mal etwas knapper wird, mach ich dir schon einen Sonderpreis. Oder aber wir müssen die Leistungen ein wenig zurückfahren.«
Sie lachte jetzt schallend.
Und er lachte mit.
Dabei war es ihm viel wichtiger, mit ihr zu reden.
Über viele Monate hinweg traf sich Lothar mit Lola zum Spaß, zum Sex, zum Small Talk. Doch so richtig glücklich machte sie ihn nicht.
Sie schaute ihm nach einem ihrer Orgasmen tief in die Augen: »Lothar! Was ist los? Du bist in letzter Zeit so anders. So abwesend. Und du erzählst nichts mehr von dir!«
Er blickte ihr in die Augen. So gut kannte sie ihn also schon, so gut, dass er ihr nichts mehr vorspielen konnte. So gut, dass sie ihn durchschauen konnte. Sie war ihm ans Herzen gewachsen. Und das war gefährlich.
Er atmete tief, sog dabei den Rauch aus seiner Zigarette in seine Lungen, bis diese zu platzen schienen.
»Du fragst zu viel und ich antworte zu wenig«, sagte er kurz.
Dann stand er auf und griff nach seiner zu großen Jacke. Schon vor einiger Zeit war ihr aufgefallen, dass diese ihm nicht gehören konnte.
»Warum trägt du immer diese Jacke? Das ist doch bestimmt nicht deine eigene. Die ist mindestens drei Nummern zu groß!«
»Du durchschaust mich immer mehr. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ob ich wieder komme oder ob ich für immer weg bleibe.«
Sie schaute ihn böse an: »Willst du mir drohen? Das kannst du nicht. Du wirst immer wieder kommen, wirst dich niemals mehr von mir lösen können.« Ihre Stimme bebte und wurde von Sekunde zu Sekunde lauter.
»Du verdammtes Arschloch! Was treibst du für ein Spiel mit mir? Willst du, dass ich mit dir kaputt gehe?«
Sie nahm ein Kissen, rotes Plüsch, und schleuderte es auf ihn. Lothar duckte sich. Hinter ihm fiel eine kleine Glasvase zu Boden und zerschellte.
»Na super, toll hingekriegt.« Er bückte sich und begann, die Scherben aufzulesen.
Dann begann er zu reden: »Ich will dir nichts mehr vormachen. Und ich brauche dich und dein Ohr!«
Lola ließ sich auf die Couch fallen. Ihre Augen verfolgten jeden seiner Handgriffe. »Dann fang an!«, sagte sie mit leiser Stimme.
Und er begann zu reden – wann immer sie sich sahen.
Lola unterbrach ihn öfters in seinen Erzählungen. In ihrer kleinen Puffsuite, die den lieblichen Duft von Vanille verströmte, wären in dieser Zeit drei, vier oder fünf Freier ein- und ausgegangen – je nachdem, wie schnell sie es ihnen besorgen konnte und sie wieder verschwanden.
War er da, war die Tür verschlossen. Das rote Licht brannte, sodass es keiner der potenziellen Kunden wagte einzutreten.
Sie war beschäftigt.
Mit ihm und mit seiner Vergangenheit.
Lothar schenkte einer Nutte sein ganzes Vertrauen. Einer Frau, die ihren Körper verkaufte. Warum glaubte Lothar, bei ihr richtig zu sein? Genau bei ihr?
Sisi
Elisabeth Amalie Eugenie von Österreich-Ungarn war als Ehefrau von Franz Joseph I. ab 1854 Kaiserin von Österreich. Durch mehrere Filme im 20. Jahrhundert wurde sie posthum zu einem weltweiten Idol – zu Sisi. Geboren wurde sie am 24. Dezember 1837 in München und verstarb im Alter von 60 Jahren am 10. September 1898 in Genf, Schweiz. Im Jahr 2015 jährt sich ihr Geburtstag zum 178. Mal.
Rückblende Bei Lola
Ich war zehn Jahre alt, als die Ehe meiner Eltern zerbrach. Die vergangenen Jahre waren zwar gekennzeichnet von vielen Streits, aber niemals hatte ich damit gerechnet, dass es bei meiner Mutter und meinem Vater tatsächlich einmal zur Trennung kommen würde. Nun saß ich da und wusste: Alles war vorbei!
Mein Vater hatte es mir gesagt, wie es seine Art gewesen war. »Micha, oder soll ich dich wie deine Freunde auch Lothar nennen? Du bist ein starker Junge! Liebe geht vorbei, kann vorbei gehen. Und so ist es zwischen deiner Mutter und mir. Wir lieben uns nicht mehr!«
Ich schaute meinen Vater an, als hätte mich ein Truck überfahren. Ich fühlte mich regelrecht zermalmt durch seine Worte.
»Und wo muss ich jetzt hin?«, fragte ich.
»Müssen? Du darfst es Dir aussuchen. Du kannst zu Mama gehen oder mit mir kommen. Aber ich möchte jetzt eine Entscheidung!«
Wie hätte ich innerhalb weniger Sekunden entscheiden können! Sie waren doch meine Eltern. Beide. Ich liebte sie. Und ich wollte mich nicht entscheiden.
Mein Vater stand vor mir mit den Händen in den Hüften und sagte: »Und? Wie hast du dich entschieden?«
»Papa, bitte! Überlegt es euch doch nochmal. Sollen wir nicht alle zusammen noch einmal in Urlaub fahren? Es war doch immer so schön. Egal, wo wir waren.«
Ich konnte meinen Vater lachen hören: »Schön? Mein Gott, Junge, bist du wirklich so naiv?«
Dieser Satz traf mich wie ein Schlag. Nein, ich konnte nicht mit meinem Vater gehen. Ganz gewiss nicht. Schon deshalb nicht, weil er sich in diesen Minuten so verhielt.
»Papa. Ich gehe zu Mama!«
Kaum hatte er meine Worte gehört, da zog er seine Schuhe an, schnappte sich seinen kleinen Koffer und ging mit den Worten: »Sag deiner Mutter, dass ich sie anrufe, wenn ich meine Kleider und die anderen Dinge hole.« Er zog die Tür hinter sich zu und war weg.
Mein Vater war weg.
Zehn Jahre lang war er immer, Abend für Abend, da gewesen. Und jetzt war er weg.
Ich spürte, wie meine Beine wegzusacken drohten. Es drehte sich alles in meinem Kopf. Jeder anderen Familie hatte ich so etwas zugetraut. Aber meiner eigenen? Alle waren neidisch auf uns. Mein Vater verdiente genug Geld, dass wir uns vieles leisten konnten, was für andere unerreichbar war. Wir fuhren häufig in Urlaub. Meine Eltern gingen abends weg. Gemeinsam, wie ich lange Zeit dachte. Alles schien perfekt. Vielleicht zu perfekt.
Doch rund sechs Wochen, bevor mein Vater mir die Neuigkeit eröffnete, kam ich von der Schule nach Hause und irgendwie war alles anders. In der Garderobe standen Schuhe, die ich noch nie gesehen hatte. Spitz und aus einem Leder, das irgendwie nach Krokodil aussah.
Ich lief ins Wohnzimmer und da war niemand. Ich rannte durch das Haus und rief immer wieder nach meiner Mutter. »Mama, wo bist du? Mama, bist du da?«
Dann hörte ich, als ich gerade in den Keller gelaufen war, die Haustüre ins Schloss fallen.
»Mama?«
»Ja«, kam es mir von oben entgegen.
»Wo warst du denn? Ich habe schon hundert Mal nach dir gerufen!«
»Ich war oben im Schlafzimmer und habe dich nicht gehört!«, sagte sie. Und ich sah, wie ihre Wangen erröteten.
»Ich habe die Haustüre gehört. War Papa da?«
»Nein, ich war gerade kurz draußen. Außer mir ist niemand da.«
Ich schaute in die Garderobe: Die auffälligen Schuhe waren weg.
»Mama, da war doch jemand. Ich habe doch diese Schuhe gesehen. Die aussahen wie ein Krokodil.«
»Welche Schuhe?« Sie traute sich nicht, mir in die Augen zu sehen.
»Na die, die hier gerade noch standen. Die standen noch nie da.«
Meine Mutter nahm mich am Arm und zog mich zu sich hin: »Du musst geträumt haben. Da waren keine anderen Schuhe als die, die immer hier stehen. Hast du Lust, mit mir eine Pizza essen zu gehen?«
Ich schaute sie staunend an: »Hast Du nicht gekocht?«
Solange ich denken konnte, war das Essen fertig, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Es sei denn, meine Mutter war mal ein paar Tage krank. Dann aber hatte meine Oma gekocht.
Sie drehte sich weg: »Nein, heute nicht. Mir ist etwas dazwischen gekommen!«
Da erst fiel mir auf, wie verstrubbelt ihre Haare aussahen, sie war auch nicht wie sonst gekleidet.
»Ich ziehe mir kurz etwas anderes an. Und dann gehen wir deine Lieblingspizza essen, okay?«
Ich nickte.
Als wir vom Italiener nach Hause kamen, hatte ich vergessen, was passiert war. Ich war wieder Kind. Und glücklich bei meinen Eltern.
Heiligabend 2002
Als seine Kinder ihm das Zeichen dafür gegeben hatten, öffnete Georg die Augen und traute ihnen kaum auf den ersten Blick: Ein fast drei Meter hoher Christbaum stand in seiner strahlenden Pracht vor ihm. So schön, so echt, so rührend. »Alles Gute zum Geburtstag, Georg«, sagte seine Frau. Und küsste ihn zart.
Die beiden Kinder, die siebenjährige Michelle und der zwei Jahre jüngere Jan, sprangen auf ihn, stießen ihn aufs Sofa und balgten sich mit ihm. Als wieder ein wenig Ruhe eingekehrt war, sagte Michelle: »Papa, es muss so schön sein, an Heiligabend Geburtstag zu haben! Du bekommst morgens Geschenke und abends gleich nochmals. Etwas Schöneres kann es nicht geben!«
Ihr Vater lachte. »Naja, dafür bekomme ich das restliche Jahr über keine Geschenke. So wie ihr. Das ist doch auch schön, wenn es halbiert ist, oder?«
»Stimmt auch wieder«, sagte Jan und herzte seinen Papa. »Aber trotzdem, alles, alles Gute zum Geburtstag. Und heute Abend feiern wir beides. Weihnachten und Geburtstag.«
Georg musste lachen und zog seine Frau ebenso auf die Couch wie die beiden Kinder. »Wenn ihr wollt, dann gehen wir jetzt alle raus und bauen einen Schneemann. Nachdem es endlich mal wieder geklappt hat, dass wir weiße Weihnachten haben!«
Seine Frau lehnte ab und schickte ihn mit den Kindern nach draußen: »Ich muss kochen! Aber geht ruhig raus, dann habe ich wenigstens meine Ruhe.«
Für diesen Kommentar kassierte sie einen kleinen Klaps auf den Hintern, den sie mit einem empörten »Hey!« quittierte.
»Mach, dass du in die Küche kommst, wir sind draußen, Schatz!«
Als sich die drei in voller Montur aufmachten, den verschneiten Garten zu erobern, schmunzelte sie und sagte: »So wie ihr eingepackt seid, könnt ihr mir eine Postkarte senden, wenn ihr am Südpol angekommen seid!«
»Sollen wir einen großen Schneemann bauen? Oder drei kleine? Jeder seinen eigenen?«
»Nein, einen ganz großen«, schrie der kleine Jan. Und somit war die Entscheidung gefallen.
»Ich muss noch kurz einkaufen gehen, habe zwei, drei Sachen vergessen. Und die Brötchen muss ich auch noch holen«, rief sie ihrem Mann und den Kindern zu. Dann zog sie die Terrassentür hinter sich zu und ging durch die Tür.
Es waren drei Schüsse gewesen – kaum zu hören, unterdrückt durch einen Schalldämpfer. Georg kippte nach vorne und fiel auf die Vorderseite des gerade begonnenen Schneemanns. Das Blut, das aus der Wunde sprudelte, färbte den Schnee tief rot. Neben ihm lagen seine Kinder. Die Kugeln hatten beide in den Kopf getroffen.
Alle drei waren auf der Stelle tot gewesen.
Rückblende Bei Lola
Ich war in meinem Leben noch nie so einsam, obwohl ich weiter zur Schule gehen musste und auch meine Freunde traf. Meine Eltern trennen sich?! Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass mein Vater mich zwischen Tür und Angel damit konfrontiert hatte. Aber war meine Entscheidung richtig gewesen, bei meiner Mutter zu bleiben? Die Schuhe kamen mir wieder in den Sinn. Und das merkwürdige Verhalten meiner Mutter. Meine Eltern wollen sich trennen?! Unfassbar!
Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, nahm mein Vater mich in den Arm. Er schaute mich an und sagte: »Du kannst dich jederzeit bei mir melden. Ich bin immer für dich da.« Damit ging er – aus unserem Haus, aus meinem Leben. Ich sah ihn nie wieder.
Während die Monate ins Land zogen, kapitulierte ich vor den schulischen Belastungen. Selbst in den Fächern, in denen ich einst zu den Besten gehört hatte, schwankten meine Noten zwischen einer Fünf und einer Sechs. Meine Versetzung in die nächste Stufe war nicht nur gefährdet, sie war geradezu utopisch.
Als ich an einem Nachmittag nach Hause kam, war ich wie vor den Kopf gestoßen: Die Schuhe standen wieder da. Ich brüllte nach meiner Mutter. »Mein Gott, warum brüllst du so?«, sagte sie, als sie zu mir gerannt kam.
Ich sagte kein Wort, blickte nur auf den Boden, auf die Schuhe, die vor mir standen. Sie nahm mich in den Arm und sagte: »Komm, ich muss dir jemanden vorstellen.«
Er! Er war aus meiner Sicht zwei Meter groß, einhundert Kilogramm schwer, Sportler durch und durch. Ein Modellathlet. So ganz anders als mein Vater.
»Hey«, sagte er und streckte mir die geballte Faust zu. Ich schaute nur auf seinen ausgestreckten Arm und die Hand. Ich blickte meine Mutter kurz an, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte in mein Zimmer. Knallte die Tür hinter mir zu. Dann drehte ich meine Musikanlage auf die maximale Lautstärke. Ich war nicht mehr auf dieser Welt. Und das war gut so.
Meine Mutter schickte mich am nächsten Tag nicht in die Schule: »Du bleibst heute zu Hause und sprichst mit mir darüber, was eigentlich mit dir los ist! Du glaubst doch nicht, dass ich mir von dir mein Leben versauen lasse?«
Ich saß geistesabwesend vor ihr, wollte weinen. Doch die Tränen waren versiegt. Vielmehr staute sich Wut in mir an. Ich sagte nur: »Warum hast du mich je geboren?«
In den Sommerferien konfrontierte sie mich mit einer Entscheidung, die sie gemeinsam mit Mike – so der Name meines, oh Gott, sie nannte ihn wirklich so!, Stiefvaters – getroffen hatte. »Wir werden das Haus verkaufen und nach Südspanien ziehen!«
Am Abend legte sich meine Mutter neben mich in mein Bett: »Ich weiß, Du hast wenig Verständnis für das, was dein Papa und ich getan haben und gerade tun. Aber es gibt Momente im Leben, in denen die Liebe nicht mehr funktioniert. Ich habe mich in Mike verliebt – und dein Vater weiß das. Und ich möchte mit ihm ein neues Leben aufbauen.«
Ich öffnete die Augen – sie erschrak. Hatte sie gedacht, dass ich schlafen würde? »Mama, und wo bleibe ich bei deinen Plänen? Bin ich nicht mehr dein Kind?«
»Für dich wird sich nichts ändern. Du wirst immer mein Sohn bleiben. Aber du musst beginnen, Mike zu akzeptieren. Er wird ein Teil unseres Lebens werden. Auch deines.«
»Mama!«, sagte ich leise, »waren es seine Schuhe, die ich damals gesehen habe?«
Sie drehte sich weg und setzte sich langsam auf, sodass ich ihr nicht mehr ins Gesicht schauen konnte.
Ich sah, wie sie nickte.
»Es tut mir leid.«
Dann stand sie langsam auf und zog die Tür hinter sich zu. Es fühlte sich für mich an, als hätte sie den Schlussstrich unter unsere Beziehung gezogen.
Weihnachten 2003
Es war ein harter Winter. Auf der Schwäbischen Alb fuhren die Schneepflüge im Minutentakt. Am Abend vor Weihnachten lagen Claudia und ihr Freund Antonio, ein kleiner, aus Rom stammender Italiener, auf dem Sofa in ihrer Wohnung und tranken eine Flasche Wein, während Eros Ramazotti aus den Lautsprechern schnulzte.
»Ich liebe seine Musik«, sagte sie leise in sein Ohr und fing an, ihn zu küssen.
»Hey, du sollst mich lieben, nicht den Eros!«
Sein italienischer Akzent war bis heute nicht zu überhören, dabei lebte Antonio schon so viele Jahre in Deutschland, dass er den Akzent längst hätte ablegen können. Er war gerne Italiener. Mit Leib und Seele und mit Mamma mia und allem, was dazu gehörte.
»Ich habe doch gesagt: Ich liebe seine Musik, nicht ihn«, sagte Claudia barsch und wich von ihm zurück.
Er grinste. »Eingeschappt?«
»Das heißt eingeschnappt, nicht eingeschappt!«
»Egal!«
»Noch zwei Stunden, dann hast du Geburtstag«, flüsterte er in ihr Ohr.
»Freust Du dich?«
Sie war wieder bester Laune: »Aber klar doch! Krieg ich auch ein Geschenk?«
»Bin ich nicht Geschenk genug?«, fragte Antonio und zwinkerte heftig mit dem linken Auge. Und schaute wie ein verstoßener Liebhaber, den keiner mehr haben wollte.
»Naja, ein bisschen mehr darf es schon sein«, sagte sie frech und stand vom Sofa auf.
»Du wirst schon sehen, lass dich doch einfach überraschen. Sollen wir nicht noch eine Flasche Wein aufmachen?«
»Du willst nur, dass ich Mitternacht nicht mehr erlebe und du dir mein Geschenk somit sparen kannst. Ich bin doch jetzt schon angedudelt.«
»Man wird nur einmal dreißig!«
Sie lallte ein wenig, aber wenn sie jemand gefragt hätte, dann hätte sie behauptet, sie sei fit und spüre nichts vom Alkohol. Antonio ging es nicht besser: Er kramte in den CDs und zog ein weiteres Mal Eros Ramazotti heraus. »Haben wir die schon gehört?«
»Meine Güte, du kriegst keinen Wein mehr. Natürlich haben wir die schon gehört!.«
Sie nahm ihm die CD aus der Hand und legte dafür einen Kuschelrock-Sampler ein.
Dann zog sie ihn vom Sofa hoch und begann, innig mit ihm zu tanzen. Er genoss es, ihren Körper zu spüren. Sie drehte sich rückseitig zu ihm und begann, sich mit ihrem Hintern an ihm zu reiben. Er griff mit den Armen um ihren Körper und schmiegte sich fest an sie.
»Ich liebe dich!«, sagte sie leise und küsste ihn über ihre Schulter hinweg auf den Mund.
Die Musik war so leise, dass sie durch das gekippte Fenster die Kirchturmglocke läuten hörten. Zwölf Mal. Heiligabend. Sie hatte Geburtstag. Ihr dreißigster!
Die linke Scheibe barst, danach die rechte. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Beide sackten in sich zusammen. Ihr Blut verteilte sich auf dem weißen Teppich. Rot, klebrig, süß.
Es dauerte Wochen, bis sie gefunden wurden. Die Polizei fand außer den beiden Kugeln nichts. Keine Spuren. Nichts außer zersplittertem Glas und zwei leblosen Körpern, an deren Stirn ein kleines Einschussloch zu finden war. Die Rückseiten der Schädel waren weggesprengt worden. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance.